Vor knapp zehn Jahren hat sich auch in Deutschland der Begriff der „Helikoptereltern“ eingebürgert. Es ist dies die Übernahme der Begriffe „Helicopter Parents/Parenting“ aus den USA. Das Phänomen gab es zwar schon erheblich länger: in den USA, in der westlichen Welt, in China (wegen der Ein-Kind-Politik) und natürlich auch in Deutschland. In der Erziehungspsychologie kannte man dieses Phänomen unter dem Begriff „Overprotection/Überbehütung“. Populär wurde der Begriff „Helikoptereltern“ in Deutschland durch mein bei Rowohlt verlegtes Buch „Helikoptereltern – Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“, das es 2013/2014 auf sechs Auflagen brachte und das mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste stand.
Ich hatte damals drei Typen von Helikoptereltern unterschieden: Erstens, die Rettungshubschrauber-Eltern. Sie sind stets zur Stelle, wenn das Kind das Pausenbrot zu Hause vergessen hat, wenn es beim Schulsport ein Kratzerchen gab, wenn es auf dem Pausenhof eine kleine Rangelei gab. Als Drohnen-Eltern orten sie ihre Kinder per GPS-App zu jeder Stunde des Tages. Als Curling-Eltern räumen sie ihren Kindern jedes Stäubchen aus dem Weg. Zweitens die Transporthubschrauber-Eltern. Sie hießen früher Taxi Mama, jetzt hat ihre Zahl gigantisch zugenommen, so dass an vielen Schulen die Zufahrtswege vor und nach Schulbeginn hoffnungslos verstopft sind und die Schulen mit Unterstützung der Kommune oder der Polizei „Kiss-and-Go“-Zonen einrichten mussten … Und drittens schließlich die Kampfhubschrauber-Eltern (in den USA: „Black-Hawk-Parents“). Sie streiten notfalls bis in die letzte Instanz um jede schulische Entscheidung, sei es die Zuteilung eines Kindes zu einer bestimmten Klasse, den Umfang der Hausaufgabe, um eine Disziplinarmaßnahme und vor allem um Noten, Noten, Noten. Im Ergebnis „produzieren“ diese Helikoptereltern mit ihrem Förder-, Verwöhn- und Kontrollwahn einen Nachwuchs, der maßlos unselbständig, antriebslos und zugleich endlos anspruchsvoll wird: verwöhnt quasi vom Kreißsaal bis in den Hörsaal.
Nun ist diese Generation beim Abitur und im Studium angekommen. Dort wird die Generation trotz nachweisbar immer schwächerer Leistungen mit Bestnoten gepampert. Die durchschnittlichen (!) Abiturnoten tendieren gegen Note 2, die Noten 4 oder 5 oder 6 gibt es in zahlreichen Fakultäten an den Universitäten kaum noch. Ganze Studiengänge weisen Abschlussnoten von 1,5 aus. Dazu kommen pro Jahr 30.000 Promotionen – die meisten mit summa oder „magna cum laude“.
Aber die Noteninflation ist bei weitem nicht die einzige katastrophale Folge. Nein, auch die Inhalte der Studiengänge werden mehr und mehr der Zerbrechlichkeit der gepamperten und hypersensiblen Generation, der „Generation Snowflake“, angepasst. Mit verheerenden Auswirkungen auf Lehre und Forschung.
„Woke“, aber unendlich „vulnerabel“: Studenten heute
Wie vieles kommt auch dieses Phänomen aus den USA. Das war in den 1960er Jahren schon mit den 68er Bewegung so, die ihren Ausgang in den USA hatten. Das war so in den 1980er Jahren, als die Bewegung der „Political Correctness“ aus den USA vor allem nach Deutschland herüberschwappte und eine Unmenge an Gesinnungsschablonen sowie Sprechverboten und Sprechgeboten mit sich brachte. Und das ist vor allem seit rund fünf Jahren so, seit die Unkultur des „Cancel Culture“, der „akademischen“ Attacken gegen „alte weiße Männer“ und „Toxic Masculinity“, die Ausweitung von „Postcolonial Studies“ und ganze „Black-Lives-Matter“-Bewegung auch in Deutschlands „Hoch“-Schulen Einzug hielt.
Was hat das mit dem Pampern durch Helikoptereltern zu tun? Jede Menge! Um das Jahr 2015 hatte sich in den USA nämlich eine seltsame Bewegung in Gang gesetzt: Studenten verlangten immer häufiger, vor bestimmten Studieninhalten, ja gar vor bestimmten Wörtern „geschützt“ zu werden. Sie behaupten, solche Inhalte oder Wörter würden bei ihnen psychische Schäden, ja gar Traumata auslösen. „I feel offended“ wurde zum larmoyanten Schlachtruf gegen Dozenten. Und die US-Lehrerschaft? Sie knickte brav ein, eliminierte bestimmte Inhalte und Wörter. Oder die Lehrerschaft versah solche Inhalte prophylaktisch mit “Trigger Warnings”, so dass die Studenten den Lehrveranstaltungen fernbleiben durften und konnten.
„Trigger“? Dahinter steckt die Annahme, dass bestimmte Reize bei Menschen mit einer vorausgehenden posttraumatischen Belastungsstörung heftige Erinnerungen an ein früheres traumatisches Erlebnis “triggern”, also auslösen könnten. Solche „Flashbacks“ (ein spontanes Wiedererleben) ist möglich, klar. Aber: Hier wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn welcher Heranwachsende hat nicht einmal ein kleines Trauma erlebt, oder sei es nur vermeintlich erlebt, als Déjà-vu-Erinnerungstäuschung. Jedenfalls nahm der Unfug der „Trigger Warnings“ in den USA, gerade auch an den hyperkorrekten „Elite“-Universitäten, einen Umfang an, dass an der Freiheit von Lehre und Forschung gezweifelt werden darf. An der New Yorker Columbia Universität etwa wünschen sich die Studenten “Trigger Warnings” zu den “Metamorphosen” des römischen Dichters Ovid. Begründung: Das vor zweitausend Jahren entstandene Werk enthält Passagen, in denen lüsterne Götter Frauen nachstellen. Sexuelle Nötigung also!
Oder ein anderes Beispiel aus Harvard, der renommiertesten der vermeintlichen „Elite“-Schmieden: Studentinnen verlangten Trigger-Warnungen für Jura-Vorlesungen zum Thema sexuelle Gewalt. Man riet Studentinnen, nicht in solche Vorlesungen zu gehen. Dozenten wurden in der Folge gebeten, die rechtliche Behandlung von Vergewaltigungen nicht zum Prüfungsstoff zu machen. Welche Folgen es für Rechtsprechung und Anwaltschaft in Zukunft hat, wenn solche Straftaten in der Ausbildung ausgeblendet werden, kann man sich ausmalen. An US-Universitäten muss man sich mittlerweile auch gut überlegen, ob man einem Niesenden „Bless you!“, also: „Gott segne dich!“ wünscht. Denn der Niesende könnte ja Atheist sein. Außerdem sind immer mehr US-Studenten überzeugt, dass es „diversity“ nur da geben kann, wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Einer Umfrage des Gallup Instituts von 2018 zufolge sind Vielfalt und Inklusion 53 Prozent der US-Studenten wichtiger als Meinungsfreiheit. Kaum noch möglich ist es auch, offen über Evolutionstheorie zu sprechen. Wie in der Türkei, wo solches aus religiösen Gründen untersagt ist!
Uni Bonn macht auf „Trigger Warning“
Ach nee, ist doch alles Spinnerei der Amis! Nein, so ist es nicht. Wie schon bei den 68er-, Political-Correctness- und Cancel-Culture-Bewegungen machen deutsche Hochschulen all dies Zug um Zug nach. Jüngstes Beispiel: Die Universität Bonn hat auf acht Seiten „Informationen und Anregungen zum Umgang mit Inhaltshinweisen in der Lehre“ herausgegeben. Das Ganze anfangs übrigens ohne Impressum. Erst am 30. September 2021 wurde das Impressum nachgeschoben. Verantwortlich zeichnet nun das „Büro der Zentralen Gleichstellungsbeauftragten“.
So, nun wendet sich die Gleichstellungbeauftragte an die „Dozent*innen“, um ihnen vorzuschreiben, was sie den „Kommilitonen*innen“ zumuten und nicht zumuten dürfen. Die Ratschläge lauten dann unter anderem so: Studenten sollen bestimmten Seminarsitzungen fernbleiben dürfen und – soweit Prüfungsrelevant – Ersatzleistungen einbringen dürfen. Seminare sollen ein „Safe Space“ sein, in welchen Studenten bereit seien, sich herausfordernden Inhalten zu stellen. Bei den Empfehlungen („Content Notes“) handle es sich selbstverständlich nicht um Zensur.
Letztere wird indirekt aber doch empfohlen, wie eine von der Gleichstellungsbeauftragten präsentierte – „nicht erschöpfende“ – Liste an Inhalten belegt, bei denen sensibel vorzugehen sei. Hier die Liste: „Sexuelle Übergriffe • Stalking • Missbrauch • Kindesmissbrauch/Pädophilie/Inzest • Selbstverletzung und Suizid • Essstörungen, Körperhass und Fettphobie • Gewalttätigkeit • Pornografische Inhalte • Entführung und Verschleppung • Tod oder Sterben • Schwangerschaft/Kindergeburt • Fehlgeburten/Abtreibung • Blut • Tierquälerei oder Tod von Tieren • Psychische Erkrankungen und Behindertenfeindlichkeit • Rassismus und rassistische Beleidigungen • Sexismus und Frauenfeindlichkeit • Klassenkampf • Polizeigewalt • Hass auf religiöse Gruppen (z.B. Islamophobie, Antisemitismus) • Transphobie und Transfeindlichkeit • Homophobie und Heterosexismus.“
Konkret wird den „Dozent*innen“ dann unter anderem empfohlen: „Versuchen Sie, verstörende Inhalte umfassend einzuführen und einzubetten. In einer Seminareinheit zum Holocaust, sollten Sie nicht direkt mit Bildmaterial aus Auschwitz beginnen. Erläutern Sie stattdessen zunächst den historischen Kontext, beschreiben Sie dann mündlich die Bedingungen in den Konzentrationslagern und führen Sie schließlich je nach Bedarf die Bilder ein ..,“ „Falls nötig, können auch schriftliche Beschreibungen von Bildern den eigentlichen visuellen Inhalt ersetzen …“ „Machen Sie Ihre Studierenden darauf aufmerksam, bei der Vorbereitung von Präsentationen oder Referaten die Vulnerabilität ihrer Kommiliton*innen zu berücksichtigen.“
Angesichts einer solchen Liste und solcher Empfehlungen fragt man sich: Ist hier überhaupt noch ein Studium der Geschichte, der Medizin (mit Anatomiekursen), der Psychologie, der Soziologie, der Rechtswissenschaften, der Literatur ….. möglich? Wir setzen die Liste der nicht mehr studierbaren Fächer nicht fort, denn im Grund ist dann nichts mehr studierbar. Auch im Studium Physik oder der Chemie kann es ja um die negativen Wirkungen von Kräften auf den menschlichen Organismus oder das menschengemachte „Klima“ gehen. Es bleibt dann vielleicht nur noch die Astronomie. Doch halt: Die Berechnung eines Kometeneinschlages auf die Erde kann ja auch ein Trigger sein.
Alles in allem stellt sich schon die Frage: Sollen Studenten, also junge Erwachsene, gepampert in einer heilen Uni-Welt aufwachsen? Nein, das kann es nicht sein. Denn sonst wächst keine hochgebildete, aufgeklärte akademische Jugend heran, sondern eine hyperideologisierte, hypersensible und hypermoralische „Generation Snowflake“. Die sich anmaßend dann auch noch für „woke“ hält. Nein, Hochschulen dürfen nicht auch noch zu diskursfreien Streichelzoos werden.