Tichys Einblick
EU-Kommissarin Vera Jourová

Ungarn verstößt doch nicht gegen EU-Recht

Ein Sturm der Entrüstung über Ungarns Ausnahmegesetz war durch Brüssel gerauscht. Nun stellt die Kommission fest, dass es doch nicht gegen EU-Recht verstößt - und auch andere Mitgliedsstaaten die Grundrechte einschränken. Nicht zuletzt ist ein Blick auf die deutsche Wirklichkeit angebracht.

Getty Images

Soeben kamen EU-Rechtsexperten zum Schluss, Ungarns Corona-Ausnahmegesetz sei formal EU-konform und verstoße nicht gegen EU-Regeln. Insofern werde die EU-Kommission „vorerst“ nichts dagegen unternehmen. Allerdings werde man Ungarn weiter „genau beobachten“. Und schließlich: Werde der Ausnahmezustand mit Abklingen der Epidemie aufgehoben, habe sich das Problem gelöst.

Alles also ein Sturm im Wasserglas? Wie damals im Jahr 2000, als die EU im Verein mit Schröder-Fischer-Deutschland gegen die schwarz-blaue Koalition des österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel tobte? Ja! Denn die vollmundigen Erklärungen gegen Ungarn sind das eine, die Tatsache, dass auch in anderen EU-Ländern einschließlich Deutschland die Gewaltenteilung weitestgehend ausgehebelt wurde, ist das andere. 

Rundumschläge gegen Ungarn

Warum Ungarn? Ende März verabschiedete das ungarische Parlament Gesetze, die es Orbáns Regierung ermöglichen, auf dem Verordnungsweg zu regieren. Freilich kann das Parlament ein Ende des Notstands beschließen. Doch zugleich ist es laut Gesetz möglich, dass die Vollmachten für die Exekutive bestehen bleiben, falls das Parlament verhindert ist.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Kaum war dieses ungarische Gesetz verabschiedet, rauschte ein Sturm der Entrüstung durch Europa. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erklärte, sie mache sich „besonders wegen Ungarn“ Sorgen, man werde das Land „genau beobachten und gegebenenfalls einschreiten“. Das EU-Parlament verabschiedete eine Resolution, in der Ungarns Ausnahmegesetz als „total gegen die europäischen Werte“ beschrieben wird. EVP-Präsident Donald Tusk verglich es indirekt mit Hitlers Ermächtigungsgesetz. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn forderte den temporären Ausschluss der Orbán-Regierung von EU-Ministertreffen. Vollmundig meinte Asselborn mit Blick auf die Notstandsgesetze in Ungarn: „Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass innerhalb der EU eine diktatorische Regierung existiert.“ Ungarn gehöre „in strikte politische Quarantäne“. Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian schloss sich der Kritik an. Der Chef der deutschen Unionsabgeordneten im EU-Parlament, Daniel Caspary (CDU), nannte die neuen ungarischen Gesetze „unerträglich“ und „inakzeptabel“. Katarina Barley (SPD), eine von 14 Vizepräsidenten des EU-Parlaments, forderte die EU-Kommission zum Handeln auf: „Sie ist die Hüterin der Verträge und muss da dringend tätig werden und beim Europäischen Gerichtshof eine einstweilige Verfügung beantragen.“ EU-Parlamentspräsident David Sassoli forderte eine Untersuchung der neuen Pandemiegesetze in Ungarn. Der linke Guardian schrieb von „diktatorischen Vollmachten“ Orbáns, die konservative Times nannte sie „quasi-diktatorisch“. Die deutsche Presse übertraf sich gegenseitig mit Attacken gegen Ungarn. Von Orbans „finsteren Methoden“ und dass Ungarns Demokratie „unter Quarantäne“ stehe, schwadronierte etwa die Süddeutsche.

Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Die Tschechin Vera Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission und Kommissarin für „Werte und Demokratie“, bemühte sich darum, alles tiefer zu hängen. Zunächst in einem Interview für das tschechische Fernsehen, dann auf Euronews sagte sie, nichts in dem ungarischen Gesetz verstoße gegen EU-Recht. Klar, Ungarn-Kritiker waren entsetzt. „Selbst wenn sie keine solide Grundlage hat für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, warum ist sie so unpolitisch und gibt das zu? Warum blieb sie nicht einfach still?“, schrieb Dániel Hegedüs vom German Marshall Fund. Aha, Politik rangiert vor Recht, suggeriert der Autor.

Ungarns Ministerpräsident
Wie Viktor Orbán wurde, wer er ist
Trotz internationalen Drucks sieht die EU-Kommission derzeit jedenfalls keinen Anlass mehr, gegen die Notstandsgesetzgebung der Orbán-Regierung vorzugehen. Nach Auswertung der Pandemie-Notstandsgesetze in den betroffenen EU-Ländern kommen die EU-Juristen in internen Stellungnahmen zum Urteil, dass sich derzeit keine konkreten Ansatzpunkte für die Verletzung demokratischer Grundrechte durch Ungarn ergeben. Zudem wurde eingeräumt, dass etwa auch Frankreich oder Rumänien starke Einschränkungen von Grundrechten beschlossen hätten.
Und wie steht es um die Gewaltenteilung in Deutschland?

Deutsche Parlamente finden derzeit de facto nicht mehr statt. Bundestag und Länderparlamente sind im Zuge von Corona zum Publikum verkommen, das die Entscheidungen der Exekutive zur Kenntnis zu nehmen hat. Ein Corona-Kabinett sowie ein informelles Gremium – bestehend aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten – entscheiden über alles: über weitreichende Einschränkungen von Freiheiten und über Abermilliarden Euro Staatshilfe. Dass diese Gremien in irgendeiner Weise Verfassungsorgane wären, ist nicht bekannt. Und weiter: Am 25. März 2020 hatte der Bundestag nach halbstündiger (!) Aussprache drei Gesetzentwürfe von CDU/CSU und SPD zum Schutz der Bevölkerung (Bundestagsdrucksache 19/18111), zur Entlastung der Krankenhäuser (19/18112) und zum Sozialschutz angesichts der Corona-Krise (19/18107) angenommen – besser: durchgezogen. Die Gesetze wurden bei Enthaltung der AfD und der Linken beschlossen. Der Bundestag stellt damit mehrheitlich fest, dass wegen der durch das Coronavirus Sars-CoV-2 verursachten Epidemie eine epidemische Lage von nationaler Tragweite eingetreten sei. Vor diesem Hintergrund wurde das Bundesgesundheitsministerium ermächtigt (!), durch Anordnung oder Rechtsverordnung ohne (!) Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen zur Grundversorgung mit Arzneimitteln, einschließlich Betäubungsmitteln, Medizinprodukten, Hilfsmitteln, Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung und Produkten zur Desinfektion sowie zur Stärkung der personellen Ressourcen im Gesundheitswesen zu treffen.

Gewaltenteilung ade! Hinzu kommt, dass nicht nur die Legislative ausgehebelt ist, sondern dass es auch keine Kontrolle durch die „vierte“ Gewalt im Staate mehr gibt: die Presse. Mehr als 80 Prozent der deutschen Presse, die „Öffentlich-Rechtlichen“ vorneweg, machen auf regierungsamtlich, ja mehr noch, sie lassen nichts unversucht, eine fünfte Amtszeit der „besonnenen Krisenmanagerin Merkel“ herbeizuschreiben.

Anzeige
Die mobile Version verlassen