Dass es im deutschen Bildungswesen hinten und vorne nicht mehr passt, dass sich die „Bildungsnation“ im freien Fall befindet, wissen wir: Die Leistungsanforderungen werden immer geringer und die Noten trotzdem immer besser. Zugleich steigen die Abiturientenquoten schier unendlich. Die Klassen werden vor allem in Großstädten und Ballungsgebieten immer heterogener, deutschsprachige Kinder sind oft schon die Minderheiten dort; ein anspruchsvoller Unterricht ist kaum noch möglich. Die corona-bedingten Schulschließungen und der Ersatz des Präsenzunterrichts durch „Homeschooling“ hat all die Probleme seit nunmehr zweieinhalb Schuljahren noch verschärft.
Ein Dauerproblem jedoch bleibt ob der Dauermiseren schier unter der Decke: der bereits vorhandene und zukünftig eklatante Lehrermangel. Jetzt, wo das Schuljahr 2021/22 zu Ende geht und die Planungen für das kommende Schuljahr 2022/23 anlaufen müssen, wird es endlich Zeit, dass die politisch Verantwortlichen sich dieses Problems annehmen. Mit Tricks kann man sich nicht mehr über die Runden retten, denn das Reservoir an Tricks zum Retuschieren des Lehrermangels ist zulasten schulischer Bildungsansprüche längst ausgereizt: Es können nicht noch mehr Unterrichtsstunden gekürzt werden; die Klassen dürfen nicht noch größer werden, und auch die Unterrichtspflichtzeit der Lehrer hat jedes sinnvolle Maß längst überschritten.
Kurz: Die Schulminister haben in puncto Personalplanung versagt, und sie versagen mit Blick auf die kommenden Schuljahre wieder. Dabei weist das Schulwesen zum einen sehr verlässliche Planzahlen aus; zum anderen ist der Lehrerbedarf sehr von politischen Setzungen abhängig. Der Reihe nach: Die Schülerzahlen sind auf ein bis zwei Jahrzehnte hinaus recht zuverlässig prognostizierbar. Der Grundschüler des Jahres 2028 ist schon geboren, der Berufsschüler des Jahres 2038 und der Abiturient des Jahres 2040 ebenso. Darüber hinaus kennt man – auch fachspezifisch – die Altersstruktur der Lehrerschaft recht exakt und weiß, wie viele Lehrer 2030 oder 2040 aus Altersgründen aus dem Dienst ausscheiden werden.
Drei weitere Faktoren, die den Lehrerbedarf ausmachen, sind Ergebnis politischer Setzungen. Ein Rechenbeispiel: Im Wochenplan einer Klasse eine Stunde zu kürzen, eine Klasse im Schnitt um einen Schüler größer zu machen und von Lehrern eine Pflichtstunde pro Woche mehr zu verlangen, das reduziert den Lehrerbedarf um 10 Prozent. Anders ausgedrückt: Die Politik hat es in der Hand, den Lehrerbedarf auf längere Sicht hinaus zu berechnen oder – im negativen Sinn – auch zu manipulieren. Die Schulminister haben es hier insofern einfacher als die freie Wirtschaft, die aufgrund konjunktureller Schwankungen weniger verlässliche Planzahlen hat.
Es geht um eine Viertelmillion Lehrer innerhalb eines Jahrzehnts
Eines hat die „hohe“ Politik dennoch versäumt, nämlich dafür zu sorgen, dass es genügend Bewerber für ein Lehramt gibt. Man hat sich durchgewurstelt und auf jede lang- oder auch nur mittelfristige Personalplanung bzw. Personalanwerbung verzichtet. Das rächt sich jetzt – vor allem zulasten der Kinder und Jugendlichen.
Derzeit gibt es in Deutschlands etwa 40.000 Schulen mit rund 10,9 Millionen Schülern an allgemeinbildenden und an berufsbildenden Schulen rund 760.000 Lehrer (umgerechnet auf Vollzeitstellen). Aufgrund demographischer Entwicklungen (inkl. Zuwanderung) werden im Schuljahr 2025/26 etwa 800.000 Lehrer gebraucht, in den Schuljahren 2030 bis 2036 werden es gar 836.000 sein. Das ist dann ein Mehrbedarf von recht exakt 10 Prozent. 10 Prozent, könnte man sagen, was ist das schon! Nein, man darf nicht vergessen, dass von den jetzt aktiven Lehrern fast ein Viertel über 55 Jahre alt ist. Das wiederum heißt: Diese Lehrer (in Zahlen und bezogen auf Vollzeitstellen: 190.000) werden bis spätestens in den nächsten zehn Jahren aus Altersgründen aus dem Lehrerberuf ausscheiden. Siehe https://www.iwkoeln.de/lehrkraeftebedarf
Rechnen wir zusammen: In den kommenden zehn bis zwanzig Jahren haben wir einen Mehrbedarf an bis zu 76.000 Lehrern und einen Ersatzbedarf an rund 190.000 Lehrern. Wir unterstellen einmal, dass den Schulministern die Brisanz dieser Zahlen nicht bewusst ist – oder dass sie sie verdrängen. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, welchen Lehrerbedarf die Beschulung von weit mehr als hunderttausend ukrainischen geflüchteten Kindern und Jugendlichen ausmacht. Auch hier geht es um eine fünfstellige Zahl an Lehrern.
Was nötig ist
Was also tun? Es ist ein Bündel an kurz- und langfristigen Maßnahmen notwendig.
- Erst in 7 bis 8 Jahren greifen wird es, wenn ab sofort mehr junge Leute unmittelbar nach ihrem Abitur für den Lehrerberuf gewonnen werden können. 7 bis 8 Jahre nämlich dauert es, bis ein Lehramtsstudium inkl. Referendariat abgeschlossen ist. Hierfür bedarf es einer großangelegten Imagewerbung für den Lehrerberuf – und Maßnahmen, die geeignete junge Leute anlocken und ungeeignete fernhalten.
- In 3 bis 4 Jahren greifen könnte eine Initiative, Studenten anderer Fächer unter Anrechnung bisher erbrachter Studienleistungen für ein “Umsatteln“ auf ein Lehramtstudium mit anschließendem Referendariat zu gewinnen.
- In 1 bis 2 Jahren wirksam würde es, wenn Universitätsabsolventen schulaffiner Fächer mit Master oder Magister oder Diplom in ein Referendariat des Schuldienstes gelockt werden könnten. Stichwort: „Umsatteln/Quereinsteiger“
- Sofort wirksam würden folgende drei Maßnahmen: Gewinnung von pensionierten Lehrern im Alter zwischen 65 und 70. Gewinnung von aktiven Lehrern für freiwillige Mehrarbeit. Gewinnung von Teilzeit-Lehrkräften für die Aufstockung der Zahl ihrer Unterrichtsstunden. Diese kurzfristig wirksamen Maßnahmen werden aber nur dann zahlenmäßig zum Erfolg führen, wenn sie finanziell attraktiv ausgestaltet sind.
Alles in allem: Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich selten mit Ruhm bekleckert. Sie beschritt immer den Weg des geringsten Widerstandes, wenn es etwa um schulische Leistungsanforderungen ging. Oder aber sie machte sich – siehe Corona – weitgehend unsichtbar. Jetzt wird es Zeit, dass sich die KMK in Sachen Lehrerversorgung auf die Hinterbeine stellt und ihr Schritttempo beschleunigt. Damit sie endlich ihren Ruf ablegen kann, im Tempo einer „griechischen Landschildkröte“ zu arbeiten (so der damalige Bundesbildungsminister Möllemann, FDP) und „die reaktionärste Einrichtung der Bundesrepublik“ zu sein (so der damalige Bundeskanzler Kohl, CDU).