Dass das Abitur in Deutschland zur Discounter-Ware verkommt, ist längst bekannt. Der wahre Mensch beginnt ja angeblich erst mit Abitur und Eintritt ins Studium. Dieser Haltung folgen die Realitäten: Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die Zahl der jährlichen Studienanfänger von damals rund 260.000 auf aktuell gut 500.000 verdoppelt; seit 2014 gibt es pro Jahr mehr junge Leute, die ein Studium beginnen, als junge Leute, die eine berufliche Bildung qua Lehre anfangen. Wie ausgeprägt die Schieflagen sind, zeigt zugleich die Tatsache, dass wir 330 Berufsbildungsordnungen und etwa 18.000 Studienordnungen haben.
Folge: Der Fachkräftemangel ist zum ernsten volkswirtschaftlichen Problem geworden, das Abitur gilt als Standardabschluss. Die Hochschulen aber müssen für Studierberechtigte – was etwas anderes ist als Studierbefähigte – mittlerweile etwa in Mathematik Liftkurse einrichten, damit die jungen Studiosi überhaupt in die Anfangsveranstaltungen der Studienfächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technikwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie hineinfinden.
Kein Wunder, wenn immer mehr junge Leute und deren Eltern daraus trotzdem ein Abitur-Vollkasko-Recht ableiten. Die Parteien und Regierungen nutzen diese Attitüde, indem sie brav Curling-Bildungspolitik betreiben. Will sagen: Der Weg zu Abitur und Studium wird immer mehr geglättet, auf dass doch ja keiner stolpere oder hängenbleibe. Die steigenden Gymnasiasten- und Abiturientenquoten und die immer besser gewordenen Abiturnoten sind Ergebnisse dieser Politik. Obendrein gibt es immer mehr „Einser“-Abiturzeugnisse. Die Landesschnitte beim Abitur bewegen sich dort, wo früher ein Spitzenabitur lag: zwischen den Noten 2,10 und 2,50. Gymnasien mit einem Abiturschnitt von 2,0 oder gar 1,9 sind keine Seltenheit mehr.
Bei so viel Gefälligkeits- und Erleichterungspädagogik kann es doch bitte nicht angehen, dass plötzlich geringfügig anspruchsvollere Abituraufgaben, zum Beispiel in Mathematik, gestellt werden! So geschehen soeben beim teilweise bundesweit einheitlichen Mathematikabitur. Tausende von „Abiturienten“ protestieren derzeit qua Digitalpetitionen gegen die Abiturprüfung. In Bayern sollen es bereits 60.000 (bei 36.000 Abiturienten) sein. Die Politik kuscht, verspricht Aufklärung. Ohne die Korrektur und Bewertung der abgelieferten Arbeiten abzuwarten, stellen sich Oppositionsparteien, Grundschul-Organisationen (!) und nicht wenige Medien an die Seite der „Petenten“. Und schon haben wir nach dem Urbild der „Fridays-for-Future“-Demos eine Art Bewegung „Mondays-for-Maths-Success“. Man weiß mittlerweile, dass man mit Infantilisierung und Hysterisierung von Anliegen Erfolg hat.
Was aber ist der Hintergrund der Aufregung – in Bayern, Niedersachsen, Hamburg und andernorts? Die Abituransprüche in Mathematik waren in den letzten Jahren sukzessive heruntergefahren worden. Weil angehende Abiturienten sich gerne an früheren Prüfungsaufgaben erproben, meinten sie, die weiche Welle werde fortgesetzt. Dann kommen plötzlich geringfügig schwieriger Aufgaben, und man gerät aus dem Häuschen.
Aber piano! Alle erfahrenen Gymnasialdirektoren und Mathematiklehrer, die der Autor dieser Kolumne befragte, bestätigten: Die gestellten Aufgaben entsprechen den Lehrplänen und damit dem Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe. Nur sind sie eben eine Spur anspruchsvoller ausgefallen.
Was sagt uns das? Die Ursachen liegen weiter zurück. Hier gilt, was bereits in der Kleinkindziehung gilt: Sind Eltern permanent zu großzügig, werden die Ansprüche der Kinder an deren Großzügigkeit immer weiter ausgedehnt. Siehe den berühmten Finger und die ganze Hand! Die Hysterisierung schulischer Ansprüche durch die Adressaten von Bildung zeigt aber auch, was junge Leute heutzutage unter „Recht“ verstehen und wie selbstverständlich meinen, in Anspruch nehmen zu können – nämlich nicht nur ein Recht auf Abitur, sondern ein Recht auf ein Spitzenabitur, mag es auch noch so inflationär vergeben werden. Und so schreiben sie denn via What’s-App-Gruppen: „Leute, unterschreiben, egal, ob zu schwer oder nicht – Hauptsache bessere Note …!“
Ja, das ist sie, die Generation Schneeflocke, in den USA „Generation Snowflakes“: Jugendliche, die – von Helikoptereltern gepampert aufwachsen – noch nie haben erfahren müssen, dass etwas nicht nach ihrer Vorstellung geht. Mit einer solchen Jugend ist kein Staat zu machen, auch wenn der Staat qua Bildungspolitik populistisch meint, das sei die Zukunft.