Forscher der Frankfurter Goethe-Universität und der Universität Oslo haben mit Blick auf das Jahr 2020 insgesamt 601 Studien ausgewertet, die sie weltweit zu den Folgen der coronabedingten Schulschließungen fanden. Das Ergebnis ist keine Überraschung und dennoch frustrierend: Man fand heraus, dass der digital getragene, so genannte Distanzunterricht fast überhaupt keinen Lerngewinn brachte.
Besonders große Kompetenzeinbußen waren demnach bei Heranwachsenden aus bildungsfernen Elternhäusern zu beobachten, und dies um so mehr, je jünger die Schüler sind. Wörtlich heißt es in der Studie, die übrigens nur in englischer Sprache vorliegt, obwohl die Frankfurter Uni federführend war: The findings indicate a considerably negative effect of school closures on student achievement specifically in younger students and students from families with low socioeconomic status.“ Siehe
Allerdings gebe es, so Forscher Andreas Frey, erste Anhaltspunkte dafür, dass sich die Online-Lehre vielerorts verbessert. Die Forscher aus Frankfurt und Oslo können von der (naiven) Vision einer Digitalisierung von Schule also nicht lassen. So als sei das das Allheilmittel. Die IT-Industrie wird es freuen. Dennoch: Es gibt keinerlei Studien, die auch einer noch so gut digital funktionierenden Schule irgendeinen nennenswerten Vorteil attestierte. Wenn Schüler seit Frühjahr 2020 – je nach Klassenstufe – bislang 600 bis 900 Stunden Präsenzunterricht nicht erhielten, ist das eigentlich durch nichts wettzumachen. 600 bis 900 Stunden – das entspricht weit mehr als einem halben Schuljahr. Besonders ausgeprägt dürften die Rückstände in den Grundschulen sein, weil dort im Beisein der Lehrerin (zu 95 Prozent sind es Frauen!) die Grundlagen der Kulturtechniken gelegt werden. Den geringeren Schaden hatten bislang Kinder bildungsbeflissener Eltern. Denn dort geben Mütter und Väter den Hilfslehrer. Am größten könnten die Versäumnisse in „bildungsfernen“ Häusern sein, zumal dort, wo die Eltern kaum Deutsch sprechen.
Für die soziale, psychische und motorische Entwicklung hat das Folgen, die in unterschiedlichem Maße zum Tragen kommen. Kinderärzte und Kinderpsychologen beobachten jetzt schon bei bis zu 50 Prozent der Kinder Verhaltensauffälligkeiten. Bei diesen Kindern und Jugendlichen greifen Ängste, Apathie, Aggressionen, adipöse Entwicklungen, Depressionen, Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle um sich. Ein Teil der Kinder vereinsamt, zum Teil auch deshalb, weil sie sich noch mehr als zuvor im “Netz“ und am Bildschirm verlieren. Krankenkassen und Suchtexperten gehen davon aus, dass die Gaming- und Internetzeiten Heranwachsender mit „Corona“ bereits beim ersten Lockdown um bis zu 75 Prozent angestiegen sind. Man ist zwar in den „social media“ präsent, aber man wird zum digitalisierten Eremiten.
All dies sind Deprivationsfolgen. Mit Deprivationen (von lat. deprivare = berauben) sind unfreiwillige Entbehrungen gemeint: als soziale Deprivationen wegen fehlender Kontakte, als sensorische Deprivationen wegen fehlender Anreize, als motorische Deprivation wegen Bewegungsmangels, vor allem aber als emotionale Deprivation wegen des Fehlens an emotional geprägter Interaktion mit Gleichaltrigen. Das Ausmaß dieser Folgen hängt davon ab, wie umsichtig Eltern damit umgehen und inwieweit es ihnen gelingt, die Resilienz der Kinder zu stärken, das heißt, ihre psychische Kraft zu mobilisieren.
Ergo: Zu realer Schule und zum Präsenzunterricht gibt es keine gleichwertige Alternative. Deshalb müssen sich die politisch und medizinisch Verantwortlichen endlich ins Zeug legen, damit das Schuljahr 2021/22 wieder ein halbwegs normales wird. Die Sommerpause 2021 bietet Zeit, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die aktuelle Sommerpause 2021 darf jedenfalls nicht wieder wie bereits die Sommerpause 2020 verschlafen werden.