Das hätte so manchen Leuten, denen eine anspruchsvolle Schulabschlussprüfung immer schon ein Dorn im Auge war, in den Kram gepasst: Das Abitur dem Corona-Virus opfern! Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien (CDU) ist damit vorgeprescht. Die linke Lehrergewerkschaft GEW wollte es so, sie unterstützte Priens Vorstoß als „sinnvolle und vernünftige Entscheidung“, die Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren ebenfalls. Sogar die Vorsitzende des Gymnasiallehrerverbandes liebäugelte damit vorübergehend.
Eine Schüler-Online-Petition sammelt Unterschriften für einen Ausfall der Abiturprüfung; am Nachmittag des 25. März hatte man gut 100.000 Unterschriften, was keineswegs einem Drittel der diesjährigen Deutschen 350.000 Abiturienten entspricht, denn bei vergleichbaren Petitionen von Schülern hat sich gezeigt, das die Zahl der Unterschriften oft ein Vielfaches größer ist als die Zahl der Betroffenen. Schließlich können sich hier ja auch Papas, Mamis, Onkel, Tanten, Omis, Opas usw. eintragen. Zugleich stehen Hessen und Rheinland-Pfalz bereits mitten in den Prüfungen. Mehrere andere Bundesländer haben die Prüfungen verschoben, wieder andere halten (noch?) an den Prüfungsterminen fest. Siehe auch hier.
Ein wenig Nachdenken und abiturpraktische Erfahrung hätten gereicht, um ein Durcheinander erst gar nicht aufkommen zu lassen. Dann hätte man an folgendes denken können:
Erstens: Für den Wegfall der Abiturprüfung gibt es keine zeitliche Not. Der zeitliche Puffer für die Terminierung der Abiturprüfungen reicht nicht nur bis Mai. Gewiss starten einige Bundesländer bereits Mitte Juni in die Sommerferien, und gewiss auch wollen die Hochschulen für die NC-Studiengänge und die Ausbildungsbetriebe die Zeugnisse der Bewerber möglichst rasch sehen. Aber, diese nicht nur rhetorische Frage sei erlaubt: Warum sollen Abiturprüfungen nicht auch zu Beginn des kommenden Schuljahres Ende August oder im September stattfinden können? Die Schulen sind dazu in der Lage; die Hochschulen und die Ausbildungsbetriebe müssten zumal in Corona-Zeiten entsprechend flexibel sein.
Drittens: Der Wegfall der Abiturprüfung wäre ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz. Die Abiturienten des Jahres 2019 schrieben und die Abiturienten des Jahres 2021 schreiben (hoffentlich) das herkömmliche Abitur. Beide Jahrgänge konkurrieren aber bei Numerus-Clausus-Studiengängen mit den Abiturienten des Jahres 2020. Gerecht ist das nicht.
Viertens: Völlig unausgegoren wäre die Praxis, die Leistungen von zwei Schuljahren auf die Abiturprüfung hochzurechnen. Denn welche der erbrachten Leistungen werden dann hochgerechnet? Nur die der eigentlichen vier bzw. fünf Abiturfächer? Oder alle? Auch die Leistungen aus Fächern, in denen man nicht so gut war?
Fünftens: Völlig übersehen wird, dass sich das Gros der Schüler in der Abiturprüfung gegenüber den Vorleistungen verbessert. Meist um ein bis drei Zehntel in der Gesamtnote. Warum? Weil sich die Prüflinge dann auf einige wenige Fächer konzentrieren können, weil sie sich auf die Abiturprüfungen gezielter vorbereiten, weil bis zu 40 Prozent der Abiturfächer mündliche Prüfungsfächer sind und mündliche Prüfungen bei den allermeisten Prüflingen besser ausfallen als Klausurleistungen.
Alles in allem: Es geht um ein anspruchsvolles, aussagekräftiges Abitur, das nicht nur Studierberechtigung, sondern Studierbefähigung attestiert. Dass diesbezüglich bereits über Jahre hinweg gesündigt wurde, ist bekannt. Denn die Leistungen sind immer schwächer und die Noten immer besser geworden. Die Folge ist unter anderem, dass immer mehr Hochschulen Nachhilfekurse für Studienanfänger einrichten mussten.
„Corona“ darf hier nicht zu einem Einfallstor für noch mehr Weichmacherei der Abiturpolitik werden.