Es ist ein Appell, der so oft ergeht in diesen Tagen: Der Aufruf zum Zusammenhalt. Gerade jetzt, in diesen für den Verlauf der Pandemie so entscheidenden Wochen und Tagen vor Weihnachten und dem anstehenden Jahreswechsel brauchen wir den Zusammenhalt, brauchen wir Solidarität. Doch wie steht es um diese Werte in Deutschland? Haben wir Anlass zu vorweihnachtlichen Hoffnungen?
„Corona-Pandemie“ – Das ist das Wort des Jahres 2020. Kürzlich gekürt von der Gesellschaft für deutsche Sprache. Direkt gefolgt von „Lockdown“ auf dem zweiten Platz. Zugegeben, alles andere wäre in diesem Jahr wohl auch absolut verfehlt gewesen. Kein Thema hat unser aller Leben in diesem Jahr so beherrscht wie die Corona-Pandemie. Keine Nachrichtensendung, keine Zeitung, kein Online-Beitrag ist seit dem Frühjahr noch an der Pandemie vorbeigekommen. Desinfektionsmittel und Mundschutzmasken sind zu unseren täglichen Begleitern geworden und – wer hätte es erwartet – auch die Versorgung mit Toilettenpapier ist nicht zusammengebrochen. Auch das demokratische Staatswesen wurde nicht etwa abgeschafft, sondern Corona-Gegner durften ihre Meinung ebenso kundtun wie Epidemiologen und wissenschaftliche Kollegen.
Und obgleich dieser Satz noch immer gilt, so hat sich doch in den letzten Monaten vieles verändert in unserem Land. Vieles ist anders geworden, vieles haben wir neu zu schätzen gelernt. Gerade in schwierigen Zeiten wird uns besonders bewusst, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten.
Das spiegeln auch zwei weitere Wörter des Jahres wieder, die die Gesellschaft für deutsche Sprache ermittelt hat: „AHA“ (Platz 5) und „systemrelevant“ (Platz 6).
AHA – Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Alltagsmasken tragen. Das ist gewissermaßen der gesellschaftliche Kanon dieses Jahres, das absolute Minimum an Zusammenhalt, das uns abverlangt wurde – und das doch in so vielen Momenten eine schreckliche Bürde darstellt. Hatten wir diese Momente nicht alle: Momente, in denen wir uns gesehnt haben, einen geliebten Menschen zu umarmen oder einfach mal alle Freunde einzuladen, den Grill anzuschmeißen und eine unbeschwerte Gartenparty zu feiern?
Corona verlangt uns allen vieles ab, aber es öffnet uns auch die Augen für unsere Mitmenschen. Ich erinnere mich gern zurück an das Frühjahr 2020, in dem sich so viele Bürger landauf, landab nicht in die Resignation treiben lassen wollten. Mit einer schier unbändigen Kraft und einem beeindruckenden Engagement zahlloser Freiwilliger wurden Initiativen aller Couleur aus dem Boden gestampft: Einkaufshilfen, Fahrdienste, Gottesdienste zum Mitfeiern im Livestream oder am Telefon, Osterlichter, die durch die Straßen zu den Menschen getragen wurden, Sportgruppen, die auf das „home-Studio“ umstellten oder gar ganze „Zeltlager @home“, die das ganze Programm kurzfristig auf den heimischen Sportplatz und die Geländespiele in den nächstgelegenen Wald verlagerten. Was zuvor noch unmöglich schien, wurde plötzlich machbar und aus der Not wurde eine Tugend – und nicht selten hörte man im Nachhinein: Wow, dass das so gut wird, hätte wirklich niemand gedacht.
Ganz besonders in den Fokus gerieten zu Beginn der Pandemie alldiejenigen, die von einem Tag auf den anderen als „systemrelevant“ betitelt wurden: Ärzte und Krankenhausmitarbeiter, Altenpfleger, Lehrer, Erzieher, Supermarktkassierer, Bus- und Bahnfahrer oder der Bäcker von nebenan. Auch hierin sehe ich durchaus eine positive Nebenwirkung des Virus: Die Achtung voreinander ist gestiegen. Viele Alltagshelden sind in das Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten und haben uns klargemacht, welchen Beitrag sie tagtäglich, ganz selbstverständlich leisten, damit unser Zusammenleben funktioniert. Für mich ist klar: Diese Helden sind Engel in Menschengestalt und verdienen unseren Respekt – jeden Tag, weit über diese Pandemie hinaus.
Gerade in Krisenzeiten, die uns alle spürbar betreffen, weil wir uns einschränken müssen, um füreinander zu sorgen, sehen wir aber auch auf eine neue Art und Weise, welchen unermesslichen Wert die Freiheit hat.
Das aber gerade das geschieht und der Dialog nicht unterdrückt wird, beweist für mich, dass wir uns nach wie vor „in bester Verfassung“ befinden. Der dritte Podiumsplatz bei der Kür des „Wortes des Jahres“ reflektiert das in meinen Augen sehr gut: „Verschwörungserzählung“. Sie haben dieses Jahr Hochkonjunktur. Abstrusitäten ohne Gleichen geistern durch die sozialen Netzwerke und werden mit Demonstrationen in unsere Innenstädte getragen. Und – das sei mit aller Ausdrücklichkeit gesagt – auch diese Verschwörungstheorien fallen unter den expliziten Schutz der Meinungsfreiheit.
Sie machen zugleich aber auch eine Polarisierung unserer Gesellschaft deutlich, die nicht erst seit der Corona-Pandemie besteht, hiervon aber durchaus begünstigt wurde. Zugleich zeigen sie aber auch, dass Demokratie streitbar sein kann und darf, ja, dass eine demokratische Gesellschaft streiten muss.
Aber eine demokratische Gesellschaft muss auch rote Linien ziehen. Auch das haben die letzten Monate, in teils erschütternden und niederschmetternden Bildern verdeutlicht. Ich denke hierbei an den Versuch, in das Reichstagsgebäude einzudringen, an die geschmacklose Störung parlamentarischer Prozesse durch vermeintliche „Besucher“ der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag oder die pietätlosen Vergleiche von Gegnern der Corona-Maßnahmen mit verfolgten und ermordeten Widerständlern im Dritten Reich.
Und dennoch, all diese Herausforderungen hat unsere Demokratie überstanden. Wieso? Weil Deutschland immer noch bereit und gewillt ist, zusammenzuhalten – auch wenn es schwerfällt, wenn es schmerzlich ist und vielen Mitbürgern fast übermenschliche Kräfte abverlangt.
Vielleicht hilft es, uns bewusst zu machen, welchem Ziel dieser Zusammenhalt dient. Es geht darum zu verhindern, dass aus dem siebten Platz der Wörter des Jahres mehr wird als eine ethisch-rechtliche Diskussion: Es geht um „Triage“. Mit diesem Wort wird die Frage bezeichnet, die sich niemand zu beantworten wünschen kann. Es geht schlussendlich um die Entscheidung, die kein Mensch jemals treffen sollte, vor die aber Mediziner gestellt werden könnten, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt abebbt und versiegt: Wem können wir noch helfen und wem nicht? Oder zugespitzt: Wer darf leben, wer muss sterben? Wer bekommt das Intensivbett und für wen haben wir keinen Platz mehr in unseren Krankenhäusern?
Es ist unsere gesellschaftliche Pflicht, die Mediziner vor dieser Entscheidung zu bewahren und ihnen zu ermöglichen, ihre Arbeit zu tun.
Deswegen gilt: Wir haben keine Wahl. Um die Freiheit zu schützen, müssen wir zusammenhalten. Dazu rufe ich Sie alle auf, auch in diesen vorweihnachtlichen Tagen, an denen wir uns noch viel mehr als sonst nach Wärme und Geborgenheit sehnen. Gewiss ist diese Form des Zusammenhalts, die dieses Weihnachtsfest von uns verlangt, abstrakt und ungewohnt. Aber ich bin überzeugt, dass wir es schaffen können. Weihnachten ist das Fest der Liebe. Verleihen wir unserer Liebe zueinander in diesem Jahr einen besonderen Ausdruck. Geben wir dieses Weihnachten ganz besonders aufeinander Acht. Ich bin sicher: Deutschland kann Zusammenhalt – ganz besonders in den schwersten Zeiten.