Tichys Einblick
Freiheit verteidigen

Wie der Ukrainekrieg das Debakel der deutschen Sicherheitspolitik offenbart

In dieser Krise liegt auch eine Chance, aber nur, wenn die Gelegenheit beim Schopf gepackt wird. Weiteres Zögern, Vertagen oder Verschleppen notwendiger Reformen gefährdet unsere Freiheit.

IMAGO / photothek

Der Angriffskrieg, den der russische Autokrat Wladimir Putin entfesselte, ist ein Offenbarungseid in gleich mehrfacher Hinsicht: Er zeigt die Angst eines Autokraten vor einer blühenden Demokratie im eigenen Vorgarten und offenbart das Debakel deutscher Sicherheitspolitik.

Noch immer machen mich die Meldungen der letzten Tage schwer betroffen. Goethes Faust fand in meinen Augen treffende Worte, die das Durcheinander dieser Tage beschreiben: Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

Wir alle haben die Vorzeichen eines drohenden Angriffskrieges gesehen, wir alle haben beobachtet, wie sich der Kreml schrittweise immer weiter entkoppelte, wie die Ansprüche immer größer wurden. Nach der – im Übrigen nach wie vor – völkerrechtswidrigen Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim hätte man sich ausmalen können, vielleicht sogar müssen, dass die Spitze der Fahnenstange damit noch lange nicht erreicht ist.

Der Angriff auf die Ukraine hat die Illusion des Westens zerstört, man könne sich auf einen stillschweigenden Konsens der Nichtintervention verlassen. In einer einzigen Nacht entfesselt Putin einen Krieg auf europäischem Boden und zertrümmert die Friedensordnung der Nachkriegszeit, die für den gesamten europäischen Kontinent trotz aller Krisen der letzten Jahrzehnte den Garanten für Stabilität, Wachstum und Wohlstand bildete.

Putins Marschbefehl offenbart seine wahnwitzigen Träume eines strahlenden Mütterchen Russlands, das sich weit über die Grenzen des Uralgebirges gen Westen ausdehnt. Dabei führt Putin diesen Krieg keinesfalls einfach nur gegen die Ukraine.

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Nicht die NATO, nicht die EU sind sein Feind. Putins Sorge ist, dass er eine freiheitlich-demokratische Alternative vor der eigenen Haustür fürchten muss, die seinen unbedingten Machtanspruch in Frage stellt. Er kann nicht dulden, dass sein System in Zweifel gezogen wird – schon gar nicht, wenn hierfür ein Staat verantwortlich ist, den er nicht einmal anerkennt, sondern lieber gestern als heute in die Russische Föderation eingegliedert sehen möchte.

Das Leid des ukrainischen Volks macht uns betroffen und sein unbedingter Freiheitswille wird – völlig zurecht – bewundert:

Wenn ganz normale Menschen, Arbeiter, Familienväter und Studenten zu den Waffen greifen, um ihr Land zu verteidigen, erfüllt uns das mit Bewunderung.
Und dieser Mut muss uns zutiefst beschämen. Wäre es nicht unsere Pflicht, an der Seite dieser mutigen Freiheitskämpfer zu stehen, die sich nicht vom großen Bruder unterjochen lassen möchten? Wäre es nicht unsere Pflicht, zu helfen, wenn ein Staat in Europa mit Waffengewalt versucht, Grenzen zu verschieben und Herrschaftsansprüche zu stellen?

Die Antwort kann nur „Ja“ lauten.

Doch die Realität sieht anders aus. Die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland gerät zu einer Farce par excellence. Dieser Krieg ist der Offenbarungseid einer gescheiterten Sicherheitspolitik und führt uns unsere eigene Naivität vor Augen.

Zu lange hat Deutschland sich darauf verlassen, dass Amerika uns schon retten wird. Zu lange haben wir auf ein friedvolles Europa gebaut. Zu lange haben wir unsere Verpflichtungen im Rahmen der NATO nicht eingehalten.
Jetzt sehen wir, welcher Preis zu zahlen ist: Wer nicht verteidigungsbereit ist, der gefährdet die Freiheit – zunächst die Freiheit der eigenen Partner und Verbündeten, in letzter Konsequenz aber vor allem die eigene Freiheit.

Ein Beispiel: Die Bundeswehr stellt im Rahmen ihrer NATO-Verpflichtungen die Panzerbrigade 37 „Freistaat Sachsen“ als Teil der sogenannten Very High Readiness Joint Task Force der NATO-Sperrspitze zur Verfügung.

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Als diese nun alarmiert wurde, hat man bei der Truppe damit begonnen, sich Ausstattung aus anderen Verbänden zusammen zu leihen. Die notwendige Flugabwehr werde man voraussichtlich im Ausland leihen müssen – in Deutschland ist schlichtweg nicht genug einsatzfähiges Material vorhanden.

Dass es uns nicht gelingt, eine kurzfristig marschbereite Truppe bereitzustellen, um unseren NATO-Partner beizustehen, ist bezeichnend für den Gesamtzustand der Bundeswehr. Mich macht das unfassbar traurig und wütend.
Der Versuch, dieses Defizit nun zu bereinigen, indem man ein Sondervermögen Bundeswehr einrichtet, mag wohl gut gemeint sein, wird das Problem aber nicht lösen.

Das Problem sitzt tiefer, ist fundamentaler: Was wir brauchen, ist eine grundsätzliche Neuaufstellung der Bundeswehr auf allen Ebenen. Wir brauchen Respekt für unsere Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in den Dienst der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit stellen.

Wir brauchen eine schlagkräftige Truppe, bestmögliche Ausbildung und Ausstattung – und keine Genderseminare für Unteroffiziere.
Wir dürfen unsere eigene Sicherheit nicht verhöhnen, sondern müssen diese endlich wieder ernstnehmen.

Mit dem Antritt von Bundesministerin Lambrecht wurden nicht etwa neue Wehrexperten ins Verteidigungsministerium geholt, sondern die Anzahl der nicht-militärischen, dafür aber sozialdemokratischen Mitarbeiter deutlich erhöht.
Das wird unserer Truppe nicht gerecht. Die Bundeswehr braucht Experten, die die Beschaffung und die Verwaltung grundlegend umkrempeln. Unsere Armee braucht eine schonungslose Bestandsaufnahme, eine grundehrliche Analyse der eigenen Fähigkeiten, der Bereitschaft von Mensch und Material.

Sendung 03.03.2022
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Dieser Prozess wird schmerzen, er wird uns beschämen. Aber er ist notwendig. Das Verteidigungsministerium darf längst geplante Reformen nicht länger vertagen, sondern muss sie angehen – und aushalten.
Ich kann nur wiederholen, was ich schon so oft gesagt habe: Die Freiheit ist das höchste Gut unserer Gesellschaft. Und Freiheit ist kein Selbstzweck, sie gilt nicht autonom, nicht, weil das Grundgesetz sie vorsieht. Freiheit muss geschaffen und verteidigt werden. Jeden Tag. Gegen alle Feinde von Innen und Außen.
Nun bin ich aber auch der unverbesserliche Optimist, der nie nur das schlechte sehen kann, sondern immer auch das Positive, das Mut machende:
Wir erleben dieser Tage ein Europa, das in beispielloser Weise zusammenrückt – und das auch in umstrittenen Fragen.

Plötzlich funktioniert die Koordinierung und Verteilung von Flüchtlingsströmen, plötzlich werden Aufnahmekapazitäten aus dem Boden gestampft und die Verteilungsschlüssel geraten zur unwichtigen Fußnote.

Wir erleben nicht weniger als eine Zäsur. Mit alten Überzeugungen wird gebrochen – gerade und ganz besonders in der Bundesregierung.

Ich hoffe, dass wir uns vom Freiheitsmut der Ukrainer beflügeln, von der Solidarität Europas begeistern lassen können. Ich sehe in dieser Krise auch eine Chance, aber nur, wenn wir sie ernst nehmen und die Gelegenheit beim Schopf packen. Weiteres Zögern, Vertagen oder Verschleppen notweniger Reformen schadet uns auf kurze wie auf lange Sicht und gefährdet nicht nur unsere Freiheit, sondern gefährdet das freie Europa.

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