Tichys Einblick
Jugend ohne Tugend

Falsch verstandene Toleranz lässt unsere Werte aussterben

Eine gefährliche Erosion der Werte unserer Gesellschaft ist zu beobachten. Vor allem in der jungen Generation und besonders unter einigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Staat und Gesellschaft müssen diese Werte ohne falsche Toleranz dahin bringen, wo es wehtut.

© Emile Guillemot

Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit, Verantwortung und Engagement – Das sind die fundamentalen Grundsätze unserer Verfassung, unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens. Gerade unsere Gesellschaft ist auf diese demokratischen Werte gegründet, auf Werte, die wir als unzerstörbar und unabdingbar betrachten.

Und dennoch, so unangreifbar Freiheit und Demokratie lange gewirkt haben mögen, ganz besonders nach der Wiedervereinigung, als in einem geeinten Deutschland als starkes Glied eines geeinten Europas alle großen Krisen scheinbar bewältigt und der Kampf gegen die Verfassungsfeinde geschlagen zu sein schien, so unangreifbar sind diese Werte schon lange nicht mehr.

Das liegt daran, dass unsere Verfassung, dass unsere Werte und unsere Kultur nicht aus sich heraus fortbestehen und sich weiter entwickeln können, ebenso wenig wie Demokratie aus sich heraus fortbestehen kann. Unsere Demokratie ist eine Herrschaft auf Zeit, in der Macht immer nur auf Zeit verliehen wird, keinesfalls aber lebenslang gepachtet oder gar vererbt wird. In diesem Bestehen und Vergehen von Macht liegt die Anmut unserer Demokratie, die dazu immer wieder unseren Beitrag braucht: Die Demokratie braucht Ideen, braucht den offenen Meinungsstreit und den kritischen Diskurs ebenso wie sie stabile Mehrheiten in der gesellschaftlichen Mitte zum Fortbestehen braucht.

Dafür braucht es Engagement, genauer das Engagement jedes einzelnen Bürgers. Keiner darf sich als bloßer passiver Beobachter begreifen. Demokratie lebt vom Mitmachen und vom Mitstreiten, vom Mitdiskutieren und vom Mitmischen. Sie braucht mündige Bürger, die bereit sind, am demokratischen Gemeinwesen mitzubauen und die die Diskussionshoheit nicht den Vertretern extremer Positionen überlassen wollen.

Da schließt sich der Kreis: Eine Politik der Mitte muss auf den Werten basieren, die das Fundament unseres Landes bilden. Das sind Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die soziale Marktwirtschaft und die Freizügigkeit ebenso wie die Achtung jedes Menschen und den Schutz seiner Individualität – unabhängig von dessen Herkunft, dessen Religion oder seinen Überzeugungen.

Soweit die Theorie. Was ich jedoch beobachte, ist eine gefährliche Erosion ebendieser Werte, vor allem in der jungen Generation und besonders unter einigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Das ist gleich in doppelter Hinsicht mehr als besorgniserregend:

Zum einen sind die Jugendlichen die Hoffnungs- und Verantwortungsträger von morgen, in deren Händen es liegen wird, die zukünftigen Geschicke dieses Landes zu leiten. Zum anderen versagen wir als Gesellschaft sträflich, wenn es uns nicht gelingen sollte, die Kinder von Einwanderern und deren Kinder von unseren demokratisch-rechtsstaatlichen Werten und Idealen zu überzeugen. Was hierbei auf dem Spiel steht, ist nicht etwa die nur sehr vage identifizierbare und vieldiskutierte deutsche „Leitkultur“, sondern schlicht und ergreifend die Erhaltung unserer Werte, in letzter Konsequenz auch der Fortbestand unserer Demokratie.

Der Angriff auf Polizei und Rettungskräfte von Dietzenbach hat uns gezeigt, wohin der Verlust von Werten und Respekt führen können: Schamlos werden die Polizei und ehrenamtliche Rettungskräfte alarmiert und zu einem eigens dafür gelegten Feuer gerufen. Dort angekommen werden sie von etwa 50 Personen aus einem Hinterhalt mit Steinen beworfen und müssen um ihre Gesundheit bangen. Mehrere Augenzeugen beschuldigen eine Gruppe Jugendlicher für diese verachtungswürdige Tat verantwortlich zu sein und behaupten die Jugendlichen nicht nur beim Präparieren der Steinhaufen, sondern auch beim Mischen von Molotow-Cocktails beobachtet zu haben.

Sofort drängt sich mir hier die Frage auf: Was ist bloß passiert? Haben wir es wirklich mit einer Jugend ohne Tugend zu tun und wie konnte es soweit kommen?

Oftmals wird in dieser Debatte angeführt, dass es sich bei jugendlichen Straftätern vorwiegend um Migrantenkinder aus bildungsfernen Schichten handle. Ein Argument, das für mich keinerlei Geltung besitzt. Die meisten Migrantenkinder leben bereits in zweiter, dritter oder gar vierter Generation in Deutschland. Die überwältigende Mehrheit ist in unserem Land geboren, mit der deutschen Staatsbürgerschaft aufgewachsen und hier zur Schule gegangen – nicht wenige haben hier studiert oder eine Berufsausbildung abgeschlossen.

Als Kind türkischer Einwanderer kann ich aus erster Hand berichten, wie mich dieses Land aufgenommen hat, wie ich in der Schule und in meinem privaten Umfeld die deutsche Kultur und die deutschen Werte kennen und schätzen gelernt habe und wie ich diese Werte zu meinen eigenen gemacht habe. Daher kann ich sagen: Bei Einwanderkindern kategorisch von bildungsfernen Schichten zu sprechen und diese vermeintliche Bildungsferne für das Einschlagen einer kriminellen Laufbahn verantwortlich zu machen, ist gelinde gesagt Blödsinn.

Wer als Einwanderer nach Deutschland kommt, um hier zu leben, kann sich nicht auf seinem Migrationshintergrund ausruhen, sondern ist gefordert, sich mit unserem Rechtssystem, unseren Werten und unserer Kultur vertraut zu machen. Das gilt ganz besonders für Einwandererkinder der zweiten, dritten oder gar vierten Generation.

Für mich ist das Problem, weswegen viele Einwandererkinder sich nicht mit unseren Werten identifizieren können, ein ganz anderes: Viele dieser Kinder und Jugendlichen leben in zwei Parallelwelten. Sie müssen tagtäglich den Spagat meistern zwischen der westlich-demokratischen Lebensart in der Schule und einer oftmals fundamental-traditionellen Lebensweise daheim.

Viele dieser Kinder und Jugendlichen kämpfen um eine Identität – und entscheiden sich gegen die deutsche. Sie sind dann sozusagen Migranten mit der Deutschen Staatsbürgerschaft, denn die wird ihnen zumeist durch den Geburtsort innerhalb unseres Landes verliehen. Wir brauchen aber keine Deutschen Staatsbürger, die diesem Privileg keine Verantwortung abgewinnen können, die in ihrem Pass nicht mehr als ein Stück Papier sehen. Wir brauchen überzeugte Staatsbürger, die ihre staatsbürgerlichen Pflichten ernst nehmen und für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eintreten.

Wie aber sollen wir die Kinder aus Einwandererfamilien hierzu erziehen, wenn wir zugleich zulassen, dass sie in den Hinterhofmoscheen und Migrantenvierteln unserer Großstädte abgekapselt vom bürgerlichen Rest unseres Landes leben – ohne zu einer tieferen Auseinandersetzung mit unseren Werten, die über die Vermittlung dieser in der Schule hinausgeht, gezwungen zu werden?

Solange wir zulassen, dass manche Kinder und Jugendliche von politischen Extremisten, konservativ-fundamentalistischen Eltern und Familienoberhäuptern oder religiösen Hardlinern wie beispielsweise Salafisten zu Werten erzogen werden, die schlichtweg unvereinbar mit den unsrigen sind, solange sehe ich schwarz für eine Jugend voller Tugend. Wenn es beispielsweise unter salafistisch geprägten Jugendlichen mitten in unserem Land zu Wettbewerben kommt, wer die deutschen „Kuffar“, die Ungläubigen, am meisten hasst, dann sind wir an einem sehr kritischen Scheidepunkt angelangt.

Es gilt also, die Kinder und Jugendlichen möglichst früh, vor allem aber nachhaltig, für unsere Werte und unsere Kultur zu begeistern. Zugleich aber auch den Eltern und womöglich auch der Großelterngeneration dieser Kinder klar zu machen, dass in diesem Land nur derjenige eine Perspektive haben wird, der sich klar zu unseren Werten, unserer Verfassung und unserer Demokratie bekennt.

Es geht hierbei keinesfalls um erzwungene Assimilation oder das Ausmerzen fremder Kulturen – vielmehr geht es darum, die kulturelle Vielfalt zu erhalten. Dafür brauchen wir jedoch klare Spielregeln: Die Spielregeln unseres Landes werden von der Verfassung und den Gesetzen bestimmt. Wer damit nicht einverstanden ist oder gar eigene Rechtssysteme wie die „Scharia“ oder private Friedensrichtersysteme über deutsches Recht erheben will, für den kann Deutschland keine Heimat sein.

Die Multi-Kulti-Romantiker werfen uns hier allzu oft Intoleranz oder gar rechtsextremes bis zuweilen nationalsozialistisches Denken vor. Vorwürfe, die ich mit größter Vehemenz zurückweise: Keiner wird gezwungen, die Werte dieses Landes zu seinen eigenen zu machen. Es wäre ja absolut gegen den liberalen Gedanken, würden wir unsere Sicht der Dinge jedem schonungslos einbrennen wollen, wie ein Siegel – ohne Rücksicht auf Verluste. Es geht eben nicht darum, jedem unsere Werte überzustülpen, sondern im Streit um das bessere Argument für diese Werte und für unsere Verfassung zu werben.

Klar müssen aber auch die Folgen sein für alle, die unsere Werte und unsere Verfassung ablehnen: Für sie kann es keine dauerhafte Zukunft in Deutschland geben. Die Menschenwürde, bürgerliche und individuelle Freiheiten, kurzum die freiheitlich-demokratische Grundordnung, stehen nicht zur Disposition. Wer sie ablehnt, der muss auch damit rechnen, von unserem Land abgelehnt zu werden.

Für mich und viele meiner Kollegen war und ist die Identifikation mit unseren Werten der Schlüssel zu einer gelungenen Integration. Daher haben wir immer darauf gedrängt, dass alle Einwanderer schnellstmöglich die deutsche Sprache in Wort und Schrift lernen müssen. Nur dann nämlich können sie unsere Werte richtig verstehen und können engagiert teilhaben an der Gestaltung der Politik, der Demokratie und der Gesellschaft.

Dass wir vielerorts eine erfolgreiche und fruchtbringende Integrationsarbeit geleistet haben, haben zahllose Beispiele bewiesen. Aber es gibt auch noch einiges zu tun. Wir müssen mit unserem Grundgesetz und unseren Werten bildlich gesprochen dorthin gehen, wo es wehtut, dorthin, wo die Ablehnung ebendieser am größten ist, wo man vom deutschen Staat am besten nichts sehen möchte außer der Pässe und der Aufenthaltsgenehmigungen. Zukünftig werden wir uns daran messen lassen müssen, ob es uns gelingt, hier erfolgreich unsere Werte zu multiplizieren und denjenigen, die dafür keine Verwendung sehen, die Ausreise als Perspektive aufzuzeigen.

Wie so häufig gilt: Die Politik ist hier ebenso gefordert wie die Gesellschaft. Wir müssen vorleben, was die deutschen Werte bedeuten und dass sie unzertrennlich mit dem Engagement für das demokratische Gemeinwesen verbunden sind. Hass, Intoleranz und Hetze haben bei uns keinen Platz. Wie also können wir Menschen für unsere Werte, für die Freiheit und die Demokratie begeistern? Mein Patentrezept ist gleichwegs optimistisch und universell einfach: Indem wir selbst dafür brennen – schaden kann das auf gar keinen Fall.

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