Tichys Einblick
Der "Dieb" von Istanbul

Ekrem Imamoglus Wahlsieg ist Aufbruchssignal für die gesamte Türkei

Der Wahlsieg eines pro-europäischen Politikers in dieser Stadt ist ein Aufbruchssignal für die ganze Türkei und zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zu einer westlicheren und demokratischeren Politik.

Chris McGrath/Getty Images

Er ist der „Dieb“ von Istanbul: Der Oppositionskandidat für die Oberbürgermeisterwahlen Ekrem Imamoglu von der CHP. Bereits im März hatte Imamoglu die Wahlen in der türkischen Metropole am Bosporus für sich entscheiden können, jedoch nur mit einem knappen Vorsprung von rund 13.000 Stimmen. Dann aber kam der Staatspräsident Herr Recep Tayyip Erdogan, focht die Wahl an, sprach von „Diebstahl an den Urnen“ und erwirkte Neuwahlen am gestrigen Sonntag. Sein erklärtes Ziel: den ehemaligen türkischen Ministerpräsident Binali Yildirim in das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters heben.

Nun folgte jedoch die erbitterte Niederlage für Erdogan und seine AKP: Erneut siegt der oppositionelle Ekrem Imamoglu – diesmal mit einem gewaltigen Vorsprung von knapp 780.000 Stimmen. Ein wahrlich herausragender Triumph und beachtenswerter Sieg eines westlich-gerichteten Politikers im Herzen der Türkei, in Istanbul. Erdogan jedoch hat in einem Punkt Recht, nämlich, wenn er von „Diebstahl an den Urnen“ spricht, denn Imamoglu hat ihm und seiner AKP die Stimmen gestohlen, weil er den Menschen die Herzen gestohlen und sie begeistert hat.

Wie ist es ihm gelungen, gegen die übermächtige AKP-Regierung anzukämpfen? Oder ist das Wahlergebnis vielmehr ein Befreiungsschlag der Istanbuler selbst? Ein Aufschrei gegen den Regierungsstil der AKP und gegen die Entdemokratisierung der Türkei durch ihren Staatspräsidenten Erdogan?

Für mich spielen hier eindeutig zwei Komponenten eine Rolle: Zum einen das Charisma, die Ausstrahlung und Begeisterungskraft des 49-jährigen Ekrem Imamoglu, zum andern aber auch der Mut der Istanbuler, sich die Freiheit, die Demokratie und die Weltoffenheit ihrer Metropole zu erkämpfen – und so ein Vorbild für das ganze Land zu sein, weiter noch eine Vision für die gesamte Türkei zu schaffen.

Ekrem Imamoglu ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Mann voller Visionen und voller Toleranz, geprägt von den laizistischen Lehren Atatürks. Er gilt als konservativer Sozialdemokrat und Anpacker. Wenn er auf die Bühne tritt, zieht er sein Jackett aus, krempelt die Ärmel hoch und spricht von Toleranz, von Weltoffenheit insbesondere gen Westen, fordert Presse- und Meinungsfreiheit, ein Ende der politischen Verfolgung und skizziert schillernde Visionen einer neuen Türkei, ausgerichtet an den Ideen des Kemal Atatürks als Bindeglied zwischen Europa und Orient.

Er sagt den Menschen, dass es Zeit ist, anzupacken und lässt keinen Zweifel daran, dass er anpacken möchte – auch gegen alle Widerstände, die ihm die AKP gewiss bereiten wird.

Imamoglu, der seit seinem 18. Lebensjahr treu gemäß den islamischen Gesetzen das Fasten hält, ist ein konservativer Außenseiter unter den Sozialdemokraten der CHP. Er gilt als Verfechter einer weltoffenen, aber in sich souveränen und starken Türkei, ist zugleich aber insbesondere in religiösen Fragen als moderater Muslim bekannt. Seine Familie besteht aus Frauen, die frei wählen, ob sie ein Kopftuch tragen möchten oder nicht. Obgleich die AKP-Regierung unzählige Imam- und Predigerschulen aus dem Boden stampft, um Politik und Religion zu vermengen und so die Kontrolle über die Bevölkerung zu bewahren, ist es ihr doch nicht gelungen, diesen einen zu schlagen: Ekrem Imamoglu, den beliebtesten Politiker der Türkei.

Für Herrn Erdogan stellt der Wahlsieg Imamoglus eine doppelte Niederlage dar. Er verliert mit Binali Yildirim nicht nur einen seiner wichtigsten Vertrauten, den er um jeden Preis als nächsten Istanbuler Oberbürgermeister installieren wollte – auch gegen alle internationalen Proteste – und der jetzt ohne jede Schlüsselposition dasteht. Erdogan verliert auch die so wichtige, die so traditionsreiche Stadt am Bosporus, von der man nicht umsonst sagt, „wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei.“

Istanbul ist die wohl westlichste Stadt der ganzen Türkei. Nicht nur geographisch ist diese Stadt ein Brückenbauer und verbindet Europa und Asien, Okzident und Orient, Abendland und Morgenland miteinander. Istanbul ist eine westliche Metropole im Herzen der Türkei und an keinem anderen Ort prallen Tradition und Moderne so stark aufeinander wie hier. Die Stadt am Bosporus zeigt, wie das friedliche Zusammenleben von Religionen, Kulturen und politischen Einstellungen gelingen kann – ganz getreu der Vision Kemal Atatürks für eine pro-westliche und tolerante Türkei.

Der Wahlsieg eines pro-europäischen Politikers in dieser Stadt ist ein Aufbruchssignal für die ganze Türkei und zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zu einer westlicheren und demokratischeren Politik. Durch den Wahlsieg Imamoglus besteht eine neue Chance für Annäherungen zwischen Europa und der Türkei und zugleich geht vom gestrigen Wahlsonntag auch ein Signal für Frieden und Stabilität im Nahen Osten aus.

Ich wünsche dem neuen Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, viel Erfolg und Geschick in seinem Tun. Ich wünsche ihm aber vor allem auch den Mut, gegen Widerstände anzukämpfen und seine Atatürk-Linie konsequent zu verfolgen, dabei aber das Wohle der gesamten Türkei und seine Verantwortung als Hoffnungsträger einer ganzen Nation nicht aus dem Blick zu verlieren.

Weiter wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass vom Wahlergebnis in Istanbul ein Aufbruchssignal für die gesamte Türkei ausgeht: Ein Signal für Frieden, Freiheit und Weltoffenheit. Die Türkei, mein Geburtsland, ist ein wunderbares Land mit tollen Menschen, einer beeindruckenden Kultur und überwältigend-schönen Landschaften. Meine große Hoffnung ist, dass die Türkei zukünftig den Menschen als dieses Land in Erinnerung bleibt und nicht als Land ohne Presse-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit.

Von der progressiven Metropole Istanbul aus soll ein neuer Wind über das ganze Land wehen und damit auch die Feinde einer Erneuerung des Landes hinfort wehen, denn der Diebstahl der Herzen kann nicht nur in Istanbul gelingen, sondern auch in der gesamten Türkei.

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