Tichys Einblick
Facetten des chinesischen Kontrollstaats

Kontrollstaat China: „Die Schwarzen wegfegen – das Schlechte ausrotten“

Das ist nicht das Motto einer Radikalkampagne gegen die CDU, sondern ein neuer Slogan aus dem chinesischen Alltag. Seit kurzem auf großen Plakaten an fast jeder Straßenkreuzung im ganzen Lande zu lesen.

"Resolut werden wir alle schwarzen und üblen Kräfte der Gesellschaft ausradieren!" Parole mit Xi Jingpin als Comicfigur am Kongresszentrum in Shanghai

(c) Marcus Hernig

Was als Provinzkampagne schon Ende 2018 begann, ist nun nationale Aufgabe in ganz China. So sauber wie die chinesischen Städte und Straßen in den letzten Jahren wurden, soll nun auch die Gesellschaft werden. Die Parallelgesellschaften des Untergrunds, welche den chinesischen Staat im Laufe seiner langen Geschichte immer wieder unterlaufen haben, in der Vergangenheit ganze Städte wie Shanghai oder Hongkong kontrollierten, sollen endgültig selbst Vergangenheit werden. Eine weitere Facette des chinesischen Kontrollstaats, passend zum Sozialkreditsystem, zur Datendiktatur.

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Dazu gefühlt an fast jeder Kreuzung Polizei, nirgendwo sonst sind so viele Ordnungshüter im Einsatz wie in China. Verkehrspolizisten natürlich. Eine von 13 Polizeikategorien im Lande. Das klingt heftig. Gemessen an der Größe des Landes ist es das aber gar nicht. Bei rund 2 Millionen Ordnungshütern gesamt, kommt gerade einer auf 700 Menschen. In Deutschland steht für die Hälfte von Bürgern bereits ein Polizist oder eine Polizistin zur Verfügung. Umso wichtiger ist daher, allen das Gefühl zu vermitteln, dass der Ordnungsstaat ständig über dich wacht. Dazu dienen die Kampagnen, die vollautomatisierten Kreuzungen, die 600 Millionen Überwachungskameras, die übergroßen Monitore, die dir unterwegs anzeigen, wenn du ein Verkehrsvergehen begangen hast.  Damit werden Verkehrssünder möglichst schnell dingfest gemacht.

Wer gern falsch parkt, wird sich spätestens überlegen, sein Verhalten zu ändern, wenn er an einer der vielen Polizeikontrollstellen an den Autobahnmautstellen des Landes angehalten wird und plötzlich ohne Papiere, Schlüssel und Fahrzeug dasteht. Der Grund: Für solche „Bagatellen“ wie Falschparken gibt es bereits einen Punkt und davon hat man 12 im Jahr zu Verfügung. Sind die schneller „aufgebraucht“, als das Jahr vorbei ist, dann verliert man seinen Führerschein und muss sich erneut der theoretischen Führerscheinprüfung unterziehen. Kameras machen es möglich, dass man gar nicht merkt, wenn man einen Punkt bekommt. Eine Minute länger geparkt als erlaubt – schon ist einer weg.

Null Toleranz, Härte, Kompromisslosigkeit. Den besseren Menschen und Verkehrsteilnehmer erziehen, zum Wohle eines sicheren Staates. Datendiktatur und Kontrolle total. An der Oberfläche scheint das Wirklichkeit, was wir schon lange aus den Berichten und Büchern deutscher Journalisten wissen.

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Doch bei aller Strenge, die alles Schwarze ausrotten und eine weiße, strahlende, stromlinienförmige Gesellschaft schaffen will, vergisst man leicht Chinas lebendige Wirklichkeit. Die war schon immer geprägt von einer erfindungsreichen Alltagsschläue, die seit Jahrhunderten immer wieder Staatsstrukturen unterläuft. Man kann sie auch als Grauzone bezeichnen – eine Mischung von Schwarz und Weiß. Grau, überall sichtbar, in den Städten und unterwegs, das Grau der kolossalen neuen Infrastrukturen aus Beton, Grau ist hier im Reich der Mitte wie keine andere Farbe die Farbe des Lebens.

Aus der neuen Strenge des chinesischen Kontrollstaates, seinen Überwachungskameras und Computerdatenbanken hat sich eine florierende Dienstleistungsbranche entwickelt, die gegen eine gar nicht so teure Zahlung von Servicegebühren hilft, deine Probleme zu lösen. Das beginnt schon mit manch einem erstaunlich freundlichen und menschlichen Polizisten am Schalter für die Bezahlung von Strafzetteln: „Denken Sie daran, wenn Sie heute schon zahlen, dann bekommen Sie dafür drei Punkte von Ihrem Guthabenkonto abgezogen. Dann sind Sie vorzeitig ihren Führerschein los“ mahnt mich eine lächelnde Polizistin, als ich meinen jüngsten Strafzettel bezahlen möchte. Der Grund: Ich hatte übersehen, rechtzeitig zum TÜV zu fahren. Laut Vorschrift kann mein Auto damit sofort stillgelegt und eingezogen werden. Die Dame rät: „Zahlen Sie erst an dem Tag, an dem Sie wieder neue Punkte für das nächste Jahr bekommen, also kommen Sie am besten erst in ein paar Tagen wieder.“ Dieser wichtige Tipp war ganz kostenlos und auch legal. Schließlich habe ich laut Protokoll 15 Tage Zeit, meine Strafe zu bezahlen. Ich nicke, verlasse dankbar das Revier und werde schon am Ausgang von einem Mann mittleren Alters angesprochen, der mir seine Karte in die Hand drückt. „Rufen Sie mich an“ sagt er, „ich lösche Ihnen gegen Gebühr Ihre Strafpunkte, bringe Ihren Wagen durch den TÜV und checke, ob Sie eine Inspektion brauchen.“ Jeder Service hat seinen Preis – doch mit rund 150 EUR für das „Rundum wieder Sorglos-Komplettpaket“ wäre ich alle meine Probleme los, der Wagen wieder fahrbereit für das nächste Jahr.

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Seitdem Chinas Verkehrsvorschriften sich verschärft haben, seitdem überall Überwachungskameras das Verhalten der Menschen in der Öffentlichkeit kontrollieren, seitdem ein soziales Punktesystem angekündigt wurde, welches das Wohlverhalten der Menschen im Lande mithilfe von Computern, KI und Smartphone überwachen soll, boomen neue Dienstleistungen, wie man seine so entstandenen Probleme wieder lösen kann.

Staatliche Restriktionen, die wir im Westen als Einschränkungen unserer persönlichen Freiheit empfinden, begreifen viele Chinesen als Chance für neue Geschäftsideen. Wichtig und wertvoll für Chinas Wirtschaft – gerade, wenn es mit den Wachstumszahlen nach unten geht. Die Kreativität der Grauzone scheint unerschöpflich, und ich werde wieder erinnert an einen Satz, den man mir als junger Student vor 25 Jahren hier mitgab: „Wir Chinesen sind schlau – vergiss das nicht.“ Schläue bedeutet hier, Wege und Lösungen im Alltag für das zu finden, was die Staatsmacht einem abverlangt. Das war schon immer so – nicht erst in Zeiten Xi Jinpings.

Marcus Hernig, Die Renaissance der Seidenstraße. Der Weg des chinesischen Drachens ins Herz Europas. Edition Tichys Einblick, 256 Seiten, 22,99 €.


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