Gerade geht dieses Land im perfekten Sturm einander verstärkender Großkrisen unter. So knapp lässt sich die Lage der Nation beschreiben. Es ginge sogar noch kürzer: AaA. Sie wissen schon. Ende der Kolumne. Ist dem noch etwas hinzuzufügen? Ach ja: Der Kassenwart lässt die Sau heraus.
I.
Der wichtigste Minister der Republik heiratet in Saus und Braus auf Sylt. Es ist, das lässt sich nicht leugnen, zugleich die Feier seines gesellschaftlichen Aufstiegs. Die politische Klasse steht Spalier. Wäre sie nicht schmerzresistent, würde sie demütig auf jede Demonstration von Eigenliebe verzichten. Dieses Gipfeltreffen der Unbescheidenen ist ein Gipfel des Hochmuts. Der kommt vor dem Fall. Wie kann man nur so dumm sein! Lindners Intellektualität, sein Fleiß, seine Eloquenz, seine Nerven, seine politischen Grundsätze, falls es die noch gibt: alles entwertet. Aber weder er noch sonst jemand aus der politischen Hochzeitsgesellschaft ist bereit, das Desaster des Landes in Zusammenhang mit dem eigenen Verhalten zu sehen. Am selben Tag, an dem das Brautpaar verkündet: „Wir sind überglücklich!“, kündigt der Bundesfinanzminister drastische Kürzungen der Leistungen für Langzeitarbeitslose an, und die Diäten steigen gerade um dreihundert Euro. Ist das dreist, dummdreist oder nur dumm? Ich fürchte, es ist schlimmer.
II.
Nein, es geht hier nicht um Missgunst und Neid. (Peter Hahne hat an dieser Stelle dazu alles Nötige geschrieben). Zu sehen ist die Symbolik der Sylter Sause, zu besichtigen die Abgehobenheit der politischen Klasse. Sie scheint nicht einmal dazu in der Lage zu sein, den katastrophalen Zustand des ihr anvertrauten Staates zu erkennen. Wer als Mitverantwortlicher so demonstrativ in den Verfall hinein feiert, ist dekadent. Dieses Fest ist mitnichten privater Natur. Denn es zelebriert Privates als öffentlichen Staatsakt. Auch das Amt steht im Rampenlicht. Offenbar mangelt es Lindner und seinen Gästen vom Kanzler bis zum Oppositionsführer dafür an Gespür. Sie scheinen sich außerhalb oder besser gesagt: oberhalb der gewöhnlichen Bevölkerung zu fühlen. Der dem Volk diktierte Verzichtmodus gilt nicht für sie selbst. Auf Sylt tagt eine Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln. Vor hundert Jahren bestand die Klassengesellschaft aus Obrigkeit und Untertanen. Die demokratische Funktionselite verhält sich nicht grundsätzlich anders. Dass sie die Wirkung nicht erkennt, beweist, dass sie die Kontrolle über sich selbst verloren hat. Wir beobachten den geistigen und moralischen Verfall einer Kaste, die den Willen des Volkes repräsentieren sollte.
III.
Demokratie, heißt es, sei die Herrschaft des Volkes. Es muss aber auch herrschen wollen, auf Mitwirkung pochen, sich einmischen. Fordern und fördern ist doch keine Einbahnstraße! Wer fordert die da oben? Und wen lohnt es zu fördern? Nirgends zu sehen ist das, was früher einmal „Hoffnungsträger“ genannt wurde. Was für ein schönes, altes, deutsches Wort, ausgestorben wie die Hoffnung selbst. Die Parteien bringen nichts mehr hervor. Die politische Kaste köchelt selbstzufrieden im eigenen Saft. Und das Volk unterwirft sich dem Lauf der Dinge mehr oder weniger murrend. Überall ist zu hören: Es ist doch sinnlos. Die Unzufriedenheit wächst, aber noch deutet nichts auf Unruhe, geschweige denn Unruhen hin. Protestieren: das macht nur die „Last Generation“. Was aber ist mit der Lost Generation, der man gerade ihr Lebenswerk abknöpft? Noch arrangieren sich die Bürger mit dem Mangel, mit dem Verlust, mit der Angst. Werden sie jemals aufstehen? Leidensfähigkeit ist auch Resignation. Den Nö-Kanzler nimmt schon jetzt keiner mehr ernst. Die Bürger setzen Scheuklappen auf und verlieren ihr Vertrauen in die Demokratie. Und wenn schon, denken sie. Was schert mich die Freiheit, wenn das warme Wasser nicht mehr zu bezahlen ist! Die Demokratie kann nicht nur an ihren erklärten Feinden scheitern, sondern auch aus sich selbst heraus zerbrechen. Die Dekadenz der Amtsinhaber wäre nicht halb so schlimm ohne die Demenz des Staatsvolkes.
IV.
Wenn also noch irgendetwas hoffen lässt, dann dieses perverse Fest auf Sylt. Darüber regen sich die Leute endlich einmal wirklich auf. Zwar ist es ohne jede Bedeutung für ihr Leben. Aber es bedeutet trotzdem viel. Womöglich wird man in Zukunft Lindners Hochzeit einmal so erwähnen wie Marie Antoinettes Satz vom Kuchen, den die Franzosen essen sollen, wenn es kein Brot mehr gibt. Lasst ihn feiern! Wer weiß, wozu es gut ist.