Eine alltägliche Szene am Bahnhof (Berlin Hauptbahnhof). Für den IC werden innerhalb weniger Minuten erst 15, dann 30, dann 40 Minuten Verspätung angezeigt. Dabei kommt er von nirgendwo her. Er startet erst. „Ursache ist verspätete Bereitstellung“. Die bürokratisch so steife wie nichtssagende und schon gar nichts entschuldigende Formel könnte über dem ganzen Land stehen.
I.
Der Vorfall wiederholt sich hundert Mal am Tag. Das Staatsunternehmen Bahn stiehlt abertausenden Bürgern Lebenszeit zu überteuerten Preisen. Die einfache Fahrt zweiter Klasse Berlin-Kassel beträgt in diesem Fall 99 Euro, die weiteren technischen Mängel sind Ausfall des W-lan und der Reservierungsanzeigen. Die Verspätungen summieren sich bis Kassel auf eine knappe Stunde. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um die Apathie der Reisenden. Sie stehen auf dem kalten Bahnsteig herum und nehmen die Verspätung gar nicht mehr als Ärgernis wahr, sondern akzeptieren die skandalöse Misswirtschaft als Normalität. Sie halten den Zustand für unveränderbar. Ach ja, Mehdorn ist schuld.
II.
Am Bahnsteig steht auch der Vorsitzende der größten der regierenden Bundestagsfraktionen. Niemand nimmt ihn zur Kenntnis. Warum auch. Doch nun geschieht etwas Bemerkenswertes. Ein einzelner Herr mit Hut zeigt mit dem Finger auf den Spitzenpolitiker und ruft mit lauter Stimme: „Das ist einer der Hauptverantwortlichen! Dieser Staat lässt die Bahn verkommen. Nicht nur die Bahn. Die Bahn symbolisiert den Zustand der Republik.“
III.
Der Fraktionsvorsitzende grinst blöde in sein Mobiltelefon. Er kann sich auf seine Mitbürger verlassen. Die meisten der geschädigten Fahrgäste schauen betreten weg. Andere starren den protestierenden Mann an, als müsse man ihn sofort in eine geschlossene Klinik einliefern. Er ist ein öffentliches Ärgernis. Die Leute wollen nicht behelligt werden. Und schon gar nicht wollen sie sich einmischen, obwohl es doch um ihre Zeit, ihr Geld geht. Müden Blicks glotzen sie vor sich hin und warten. Eine Frau faucht den Mann an: „Fahren Sie doch mit dem Auto, wenn es Ihnen nicht passt.“ Das ist angesichts der Klimadebatte ein konstruktiver Vorschlag und erinnert an alte Zeiten. „Gehen Sie doch nach Drüben, wenn es Ihnen nicht passt.“ Der Mann, der seine Rechte einfordert, wird sofort ausgegrenzt. Er gehört nicht mehr dazu. Er ist ein Unruhestifter.
IV.
Wir leben in einem zermürbten, ermatteten Land. Die Verspätung als Dauerzustand. Ob seine Soldaten nicht mehr schießen können, die Schulen nicht mehr bilden wollen, Behörden nur noch Bürokratie produzieren und alles, was wächst, pedantisch behindern, die Steuern aber nur noch steigen – die Mehrheit ficht es nicht an. Der Kultsong der Berliner S-Bahn – „Is mir egal“ – ist längst nicht bloß das Motto der Hauptstadt in allen Belangen und zunehmend des ganzen Landes. Man sollte den Satz in die Präambel des gerade siebzig Jahre alten Grundgesetzes einfügen. Denn er ist so gewiss wie die Tatsache, dass schwarz-rot-gold die Nationalfarben sind.
V.
Sind wir einfach nur ein Volk mit guten Nerven? Oder bloß eine Zombiegesellschaft, die Demokratie für ein Beruhigungsmittel hält? Der Karl-Kraus Satz: Wenn in Österreich die Verfassung gebrochen wird, gähnt die Bevölkerung, lässt sich in Deutschland mühelos paraphrasieren: Wenn in Deutschland der Staat versagt, bewahrt der Bürger vor allem Ruhe. Denn Ruhe ist in diesem Land seit jeher erste Bürgerpflicht. Das ist Deutschlands Verhängnis. Die Bevölkerung akzeptiert die unfähigste Regierung, weil es demokratische Regierungen als Obrigkeit respektiert. Niemand rebelliert gegen den allmählichen Verfall dieses Landes. Dagegen, dass er gegen die Wand gefahren wird.
VI.
Einwanderungsaktivisten, Klimaschützer, Streiter für die Gleichberechtigung der Frau, gegen Armut und Hetze von Rechts gibt es zuhauf. Sie gehören natürlich auch zu einer lebendigen Demokratie. Aber warum schallen von fast allen politischen Kanzeln nur ihnen Lobeshymnen entgegen? Wer kämpft für die Interessen der Mehrheit? Wer setzt sich dafür ein, dass dieses Land einfach nur gut gemanagt wird und der Staat seinen Bürgern dient?
VII.
Was dieses Land bräuchte, wären tausende genervte Fahrgäste, denen der Kragen platzt, Bürger, die sich nicht Tag für Tag gefallen lassen, wie sie über ihre Köpfe hinweg betrogen, belogen und bestohlen werden. Dieses Land benötigt leidenschaftliche Bürger, nicht duldsame. Und Medien, die auf ihrer Seite stehen. Frankreich macht es uns vor. Wer in Europa etwas bewegen will, muss zuerst die eigene Lethargie und Resignation überwinden.