Lieber Roland Tichy,
Ihnen jeden Samstag einen Text zur Verfügung zu stellen, war mir fast schon zur lieben Gewohnheit geworden. Heute erhalten Sie nichts als mein Schweigen – nebst einer kurzen Begründung an den Herausgeber (oder sagt man im Netz besser Blogwart?). Bisher hatte mich noch nie eine Schreibblockade befallen. Jetzt ist es soweit. Ich befinde ich mich in einem Zustand, den mir das ZDF immer gewünscht, aber nie bekommen hat. Wer weiß, vielleicht tut der Tichys Einblick gut und mir auch.
Altersdepressiv kurz nach der Verrentung? Intellektuell Ausgebrannt? Wenn Sie mich das fragten – ich hätte Verständnis. Aber ich glaube, es ist etwas anderes. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, je mehr ich höre, desto weniger weiß ich. Und je weniger ich weiß, desto weniger fällt mir ein. Das ist eine schwache Entschuldigung, ich weiß. Bei den meisten Kollegen läuft es doch gerade deshalb wie geschmiert: Je weniger sie wissen, desto weniger müssen sie sich von Tatsachen beeindrucken zu lassen. Über Kontrollverlust/Dunkeldeutschland/Sexmob/Lügenpresse/#Aufschrei/KölleAlaaf etc.pp habe ich so gut wie alles zehnmal gelesen und das Gegenteil davon auch. Vor allem im Netz wate ich seit Tagen durch eine Brühe aus, verzeihen Sie, halbverdaut Erbrochenen und intellektuellem Dünnpfiff. Die zulässigen Grenzwerte der Erregungsemission sind in Deutschland um das ca. hundertsiebzigfache überschritten. Doch die Hysterie findet reißenden Absatz. Selbst der Printjournalismus erhofft sich die Rettung aus der Auflagenkrise durch Krisengeschrei.
Das alles ist nicht gesund. Das ganze Land, ein einziger, gewaltiger kakophonischer Chor, dessen Mitglieder an eitrigen Stimmbandentzündungen, Stimmbandzerrungen, Stimmbandblähungen usw. leiden, und dennoch nicht aufhören können, sich anzubrüllen und anzukrächzen. Wessen Weltbild noch nicht verrückt worden ist, der wird selbst verrückt. Nur unverbesserliche Optimisten begrüßen eine Belebung der Streitkultur. Ich persönlich habe es schon mit Mozarts Klaviersonaten, zwei Joints (allerdings rauche ich nicht auf Lunge) und einer neuen Freundin versucht. Alles umsonst. Das Dröhnen im Kopf will nicht aufhören.
Mir geht, offen gesagt, weniger die angebliche Menschenverachtung mancher Schreihälse auf die Nerven, als die unübersehbare Verachtung der deutschen Sprache. Die einen produzieren Gefühlsschaumbäder, die anderen Fensterkitt. Luftundurchlässig sind sie beide. Und das sollte Sprache doch sein: durchlässig für neue Gedanken. Sprache darf alles, nur nicht das Denken behindern und verbieten. Dann wird sie zu Propaganda.
Deshalb ein Wort zur wundersamen Sprachgewalt jener Frau, die zu verunglimpfen ich mich an dieser Stelle hin und wieder vergeblich bemühte. Als tanzende Vampirin, als blinde Birnenpflückerin, als Angie-Arglos und Merkel-Machtschon. Heute fällt mir nichts ein. Weil es nämlich völlig unerheblich ist, ob sie närrisch geworden ist oder uns zum Narren hält. Die Dummen sind immer wir.
Frau Dr. Angela Merkel entzieht sich den Worten, und die Worte entziehen sich ihr. Nur eine einzige Formulierung aus ihrem letzten Statement, nur ein winziges Beispiel dafür, warum sie mich so hilflos macht: „Es ist richtig und gut, dass es jetzt sehr, sehr viele Anzeigen gib.“ Hat sie gesagt. Wie bitte? Übernimmt sie neuerdings die Logik von Pegida? Ich fürchte, es ist schlimmer. Die deutsche Bundeskanzlerin beherrscht die deutsche Sprache nicht. In Zukunft soll dies ja ein Abschiebungsgrund sein. Könnten wir uns wenigstens darauf einigen?
Mit Sprache ist das Desaster kaum noch zu fassen. Also folge ich dem ärztlichen Rat und schweige. Es reden ja alle anderen, sogar die Kanzlerin. Es ist das einzig Neue an ihr. Wohin und vom wem auch immer sie jetzt zum Jagen geschleppt wird, ob von Udo di Fabio, Sarah Wagenknecht, Alice Schwarzer, Gerhard Schröder oder am Ende gar von ihrer eigenen Partei, es ist zu spät. Sie kriegt den Inneren Frieden in Deutschland so wenig hin wie den Frieden in Syrien. Wie wäre es, wenn wir ihr das mit unserem gesammelten Schweigen (eine Böllsche, also Köllsche Erfindung!) mitteilen würden. Sie stellt sich zur Wahl und keiner geht hin. Aber jetzt rede ich selbst schon wieder zu viel. Besser, ich schau jetzt mal nur zu. Spinnen die Deutschen? Zur Zeit sorgen sie jedenfalls für gefühlte neunzig Prozent der weltweiten Spottproduktion (Spottweltmeister). Die restlichen zehn Prozent liefert Donald Trump.
Eigentlich, lieber Herr Tichy, hatte ich vor, Ihnen diesen Samstag etwas zum Stichwort Dekadenz zu liefern. Ich fürchte, dass sich dieses Land im Niedergang befindet. (Wussten Sie übrigens, dass die Lehre von der Dekadenz eine Erfindung des aufgeklärten islamischen Gelehrten Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert ist?) Die Dekadenz einer Gesellschaft zeigt sich darin, dass sich ihre Kultur erst ins Feine, Sensible, dann ins Überfeine, Übersensible, also Degenerierte verwandelt. Das Willkommensthema als Degenerationserscheinung – kein schlechter Stoff. Was meinen Sie?
Aber weil ich zur Zeit weder ein Aber-Nazi noch ein Aber-Gutmensch sein will, spare ich mir das auf. Vielleicht bis zum nächsten Samstag. Solange genehmige ich mir meine Blockade. Ich bin dann mal weg und lese ein altes Buch. So etwas wie die Schatzinsel. Obwohl… selbst die ist bedroht. Vom Klimawandel. Dafür fällt, wie man hört, hierzulande die nächste Eiszeit aus. Wenn das mal keine gute Nachricht ist! Frau Dr. Angela Merkel hat vielleicht schon, vorausschauend wie sie nun einmal ist, einen Plan für die Wende von der Energiewende im Sinn. Weshalb wir doch noch mit einer schönen Hoffnung ins Wochenende ziehen.
In diesem Sinne stets Ihr
Wolfgang Herles