Heute keine Lieferung für den Almanach des Schwachsinns. Das Jahr ist ja noch lang. Heute ein Blick nach vorn. Bewegung ist in die deutschen Verhältnisse gekommen. Eine deutliche Rückwärtsbewegung.
I.
Eine einzige Silbe, ein Allerweltsname tauchte auf, fast wie Schmidt, nur eben Schulz – und schon wird das Korps der Merkelversteher und Merkelverehrer nahezu geschlossen fahnenflüchtig. Die Journaille gibt dem profansten Instinkt ihres Gewerbes nach: Das Neue schlägt das Alte. Die gefallsüchtige Presse bildet den Stimmungswechsel ab. Sie wünscht sich keine Alternative für Deutschland, sondern eine Alternative für Merkel. Und schon wieder schreiben viele Journalisten im Bewunderungsmodus. Sie hätten die Kanzlerin schon lange mit Skepsis betrachten können. Das „Wer-denn-sonst?“ aber war ihr Mantra. Jetzt ist Kritik an Merkel erlaubt, vorausgesetzt, sie drückt Zustimmung zu Schulz aus. Mainstream begrüßt St. Martin – das ist wahre Willkommenskultur.
II.
Vor vier Jahren machte die deutsche Presse nahezu geschlossen Steinbrück nieder. Der bessere Kandidat hatte fortgesetzt gegen political correctness verstoßen und Vergnügen am Geldverdienen verraten. Merkel wiederum hatte in der Einwanderungsfrage noch nicht völlig die Orientierung verloren. Das Vergnügen von Schulz am Geldverdienen spielt heute bis jetzt kaum eine Rolle. Weshalb? Weil es plötzlich heißt: Willkommen ist, wer Merkel schlagen kann. Mit einem Mal fällt allen auf, dass von der uninspiriert und maulfaul vor sich hin werkelnden Kanzlerin nichts mehr zu erwarten ist. Nicht einmal eine weitere ihrer gefürchteten Executive Order.
III.
Die Stimmung hat sich gedreht, allerdings nicht gegen die generelle Richtung der deutschen Politik. Die ist alles andere als schlüssig und konsistent, ohne dass es die Mehrheit der Wähler stören würde. Es ist die Methode, die allmählich zweifeln lässt. Merkel ist ja als Anästhesistin der deutschen Demokratie zu Ruhm gelangt, nicht als Kardiologin. Die Leute zweifeln inzwischen an einem Chefarzt, der nicht behandelt, sondern nur betäubt. Schulz nützt den Zweifel nur aus, täuscht Neuorientierung vor. Absurderweise lebt er von der Angst der Deutschen vor einem wirklichen Wechsel. Von der Nostalgie, die er verbreitet, wenn er die Behaglichkeit des Sozialstaats vor der Globalisierung beschwört. Es sind Vorschusslorbeeren, von denen Schulz sich gerade ernährt, von der Hoffnung, dass er wenigstens vom Regierungshandwerk etwas mehr verstehen möge.
IV.
In Deutschland breitet sich eine gewaltige Sehnsucht nach der verlorenen Zeit aus. Die CDU träumt von der Wiederkehr der alten Mitte, die sie selbst mit zerstört hat. Die Grünen träumen aus Not neuerdings von alter Stärke im rot-grünen Verbund. Der altbackene Sozi Schulz dient dieser Hoffnung als Verstärker. Die FDP wäre gern wieder Zünglein an der Waage, also wichtiger, als es dem Stimmenanteil entspricht. Also hofft auch sie auf Merkels Niederlage – möge sie nur nicht allzu heftig ausfallen. Ach, was waren das für Zeiten, als Rechts und Links noch Positionen waren, auf die man (sich) setzen konnte. Die Übersichtlichkeit und Verlässlichkeit der Bonner Republik – schön wären sie.
V.
Die Träumerei von vermeintlich guten alten Verhältnissen ist bemerkenswert, weil sie über Wahlkampfstrategien weit hinausreicht. Ein Megatrend hat die deutsche Politik erfasst. Ihm folgen Wähler und Sympathisanten aller Parteien. Nicht bloß AfD-Anhänger. Es ist ein großer Bremsreflex gegen den rasenden Wandel. Alle treten aufs Pedal – obwohl da gar keines ist; es sind alle nur Beifahrer. Abgesehen davon, dass Bremsen in der Kurve genau das Falsche sein kann. Ob Nationalstaat alter Prägung, innere und äußere Sicherheit oder sicherer Sozialstaat, auf den Verlust der Gewissheiten reagieren jetzt alle Parteien, wenn auch höchst unterschiedlich. Es ist schon so: Die tiefste Spaltung der westlichen Gesellschaften verläuft zwischen denen, die versuchen, die Herausforderungen der Zeit irgendwie zu managen, und denen, die glauben, man könne die Globalisierung abwickeln. Für sie steht auch der Name Trump. Nur, dass inzwischen eben auch andere auf ihre Weise diesem Zeitgeist nachgeben. Auch Schulz. Die Mittel sind verschieden, untauglich sind sie alle. Trump kommt Schulz gerade recht – Trump als abschreckendes Beispiel. Die Botschaft des Genossen Schulz lautet: Es gibt auch andere Wege zurück. Schon möglich, dass er damit sogar AfD-Sympathisanten ansprechen kann.
VI.
Was wäre der größte Vorteil einer Kanzlerschaft von Martin Schulz? Kurioser Weise vor allem eines: Deutschland bekäme wieder eine richtige Opposition im Bundestag. Der eigentliche Gewinn wäre nicht Schulzens Aufstieg, sondern Merkels Sturz. Er würde in der CDU einen Neuanfang erzwingen. Talente bekämen eine Chance. Über Jahre unterdrückte Debatten über die Zukunft dieses Landes brächen auf.
Rot-Rot-Grün wäre das beste Renovierungsprogramm der bürgerlichen Mitte. Gut tun würde der CDU aber schon, wenn sie Teil einer großen Koalition bliebe – nur eben unter einem Kanzler Schulz und ohne Merkel. Der geheime Slogan in der CDU lautet: Verlieren um zu gewinnen. Er gilt auch für die CSU. Nichts garantierte besser den Fortbestand ihrer absoluten Mehrheit in Bayern als Merkels Niederlage in Berlin. Eine echt liberal-konservative Kraft wäre nicht reaktionär, sondern an der Spitze des Fortschritts.
VII.
Soll also, wer der CDU Gutes wünscht, Schulz wählen? Wenn es denn so einfach wäre. Die Crux der deutschen Demokratie ist das Wahlsystem. In der Politik kommt es auf den Kanzler an, den aber die Bürger nicht wählen dürfen. Sie wissen nicht einmal, welche Regierungskoalition sie befördern, wenn sie so oder so wählen. Das ist absurd. Und deshalb ist es leider so: Wählen hat ungefähr die gleiche Wirkung wie Nichtwählen. Dann wählt mal schön!