Sehfehler machen das Leben schwer, aber es sind keine Krankheiten, sondern Symptome, die auf schwere Krankheiten, etwa auf Veränderungen im Gehirn verweisen. In der Politik ist das nicht anders. Hier eine Liste von Sehstörungen, von der diejenigen betroffen sind, die weiter am Steuer sitzen, aber nicht einmal eine Brille aufsetzen wollen.
I.
Visionen sind Vorstellungen. Sie sind eine Mischung aus Wünschen und Prognosen. Ohne Visionen kann kein Mensch leben und auch kein Land. Wer keine Visionen hat, ist politisch hirntot. Wer zwei Millionen Spiegelstriche in einem Koalitionsvertrag als visionär ausgibt, hat keine Vision, sondern Augenflimmern und sollte zum Arzt gehen.
II.
Übertrieben positive Visionen haben negative Effekte. Die Bilder einer ganz und gar gelungenen Zukunft erzeugen das, was Psychologen eine mentale Komfortzone nennen. Das vorweggenommene Wohlgefühl frisst dann die Energie, die nötig wäre, die Zukunft zu bewältigen. Allzu positive Visionen (Wir-schaffen-das-Syndrom) befassen sich nicht mit der Zukunft, sondern sind eine falsche Wahrnehmung der Gegenwart.
III.
Visionen müssen ständig hinterfragt werden. Denn Visionen sind oft realitätsfern. Sie vereinfachen die Wirklichkeit und nähern sich der Utopie (beziehungsweise Dystopie). Die praktische Politik kommt ohne Visionen zwar nicht aus, aber herausgefordert wird sie letztlich vom Unerwarteten, Überraschenden. Hindernisse, Ängste, Widerstände auf dem Weg in die Zukunft im Blick zu behalten, macht gute Politik aus. Wer nur auf die Zukunft starrt, verliert leicht die Gegenwart aus dem Blick. Er leidet an Gesichtsfeldverengung, am Tunnelblick.
IV.
Weitsichtige Politiker sind besser als kurzsichtige, sollte man meinen. Beide leiden an Sehschwäche unterschiedlicher Art.
V.
Zu den meist zitierten Sprüchen zählt der des Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Wer Visionen habe, müsse zum Arzt. Er wird auch durch Wiederholung nicht richtiger. Eigentlich müsste der Satz lauten: Wer Halluzinationen hat, muss zum Arzt. Denn Halluzinationen sind Wahrnehmungen ohne Reizgrundlage, also Einbildungen. Eine klassische Halluzination ist die Behauptung, Deutschland werde durch unbegrenzte Zuwanderung reicher.
VI.
Farbenblindheit. Bei diesem vollständigen Ausfall des Farbsinns (Achromatopsie) werden nur noch Hell-Dunkel-Kontraste wahrgenommen. Dunkeldeutschland und helles Deutschland. Diese Farbsinnstörung ist meist verbunden mit weiteren Symptomen wie geringer Sehschärfe und extremer Blendungsempfindlichkeit. Politiker lassen sich generell leicht blenden, am liebsten von sich selbst.
VII.
Damit verwandt ist die Rot-Grün-Sehschwäche. Der davon Betroffene ist nicht mehr in der Lage, die Farben zu unterscheiden. In der Politik führt dieser weit verbreitete Sehfehler nicht bloß zu Verwechslungsgefahr unter den Parteien. Der Farbenblinde weiß nicht einmal mehr, was Rot und Grün bedeutet und hält deshalb die Unterscheidung für überflüssig. Wer in den vergangenen Tagen Talkshows mit Vertreterinnen von CDU und SPD gesehen hat (Nahles/Altmaier, Grütters/Barley), konnte die Störung im Vollbild beobachten.
VIII.
In der GroKo sind Rosarotseher (Uns ging es nie so gut wie heute) in der Mehrheit. Sie verwechseln den Status Quo mit der Zukunft und sind deshalb zukunftsblind. Schwarzseher dagegen neigen zum Defätismus. Es sind Spielverderber, mit denen sich kein Wahlkampf gewinnen lässt. Sie wünschen sich das Schlechte, um Recht zu behalten. Sie taugen nur für die Opposition.
IX.
Illusionen: Reale Sachverhalte werden falsch wahrgenommen. Die neue Generalsekretärin der CDU ist noch nicht einmal ernannt – schon gilt die Krise als abgeblasen. Alle Skeptiker sind sofort zufrieden. Die Erneuerung nimmt ihren Lauf, weder Ochs noch Esel halten sie auf. Zu den derzeit größten Illusionen zählt z.B. auch der Glaube der Kanzlerin, alle europäischen Staaten tanzten nach ihrer Pfeife und ließen sich Zuwanderungsquoten diktieren. Oder die Gefahren der Künstlichen Intelligenz für den Arbeitsmarkt ließen sich durch „Beratungsangebote“ (Nahles) abwehren.
X.
Manche Politiker wissen, dass sie blind sind. Doch halten sie sich für blinde Seher.
XI.
Ein blinder Passagier an Bord ist allemal besser als ein blinder Kapitän.