Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Eine Partei steht wenige Monate nach ihrer Gründung vor dem Einzug in drei Landtage mit zweistelligen Ergebnissen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie in Thüringen sogar mitregieren. Und auch bei den Bundestagswahlen im nächsten Jahr ist mit ihr zu rechnen.
I.
Den Rückenwind für das Bündnis Sahra Wagenknecht aber machen andere. Sahra Wagenknecht hat ihn dem Ungenügen der anderen Parteien zu verdanken. Sie bilden das Meinungsspektrum nicht ab. Die Parteien der Ampel verlieren massiv Vertrauen. Unglaublich, aber wahr: In Thüringen stehen sie alle drei am Fünf-Prozent-Abgrund. Die Unionsparteien wiederum sind nicht in der Lage, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, allzu schwer hängen ihr die sechzehn Merkeljahre am Hals, alle Fehlentwicklungen haben sie mit zu verantworten. Wäre es anders, könnten sie einen weit höheren Stimmenanteil erwarten. Sahra Wagenknecht spricht links wie rechts Wähler an. Von der „Wiedervereinigung“ Enttäuschte sind ebenso dabei wie solche, die sich genieren, die nicht ganz stubenreine Höcke-AfD zu wählen. Wagenknecht hat wenigstens Manieren, wenn sie gelassen sagt, was Alice Weidel bellt. Sie muss man nicht heimlich unterstützen, darf es ungestraft zugeben, es gilt auch noch als fortschrittlich. Sahra Wagenknecht verdankt den Zuspruch also auch dem Zustand der AfD. Ihr Licht leuchtet so hell, weil der Rest so trüb erscheint. Eine Funzel inmitten der Finsternis.
II.
Sahras Verein ist im Wortsinn national-sozialistisch, aber natürlich Welten von dem entfernt, was jetzt alle denken. Er ist wirtschaftspolitisch links, gesellschaftspolitisch rechts. Neuerdings passt das wieder zusammen, nicht bloß in Deutschland. Trump/Vance und Marine Le Pen sind nicht grundsätzlich anders gepolt. In diesem Sinn ist das BSW ein populistisches Angebot. Die frühere „Arbeiterpartei“ SPD macht in ihrer grünen Wokeness keinen Stich mehr, obwohl sie den Sozialstaat überdehnt (siehe Bürgergeld). Wagenknecht ist weder woke noch grün – aber Marxistin. Pazifistin ist sie auch, keine Transatlantikerin, damit steht sie in DDR-Tradition und trifft generell deutsche Mentalität. Im Thüringischen Landtag wird nicht über die Ukrainehilfe entschieden, deshalb ist ihre Bedingung für eine Regierungsbeteiligung im Bratwurstländchen reine Rhetorik. Ein klares Programm ist trotz allem nicht erkennbar. Sie braucht auch keines, Sahra Wagenknecht selbst ist das Programm. Sie ist die Partei, die konsequenterweise ihren Namen trägt. So etwas wäre bei keiner anderen Partei vorstellbar.
III.
Sehr weiblich kommt sie herüber, aber frei von Feminismus. Sie ist höflich, rhetorisch gewandt, aber auch unnahbar wie hinter Glas, menschenscheu und charismatisch zugleich. Im Grunde verhält sie sich ganz unpolitisch, taugt nicht für taktische Winkelzüge und Mauscheleien. Eine Dame – mit Talent zur Domina. Sie ist ein Solitär in der politischen Kaste, die die Sehnsucht vieler nach Führung anspricht. Das macht sie – demokratietheoretisch – gefährlich. Vor allem viele mit der westdeutschen Demokratie nicht versöhnte Ostdeutsche hätten nichts dagegen, geführt zu werden. Da ist jemand, der verspricht zu wissen, wo es lang geht. Ein bisschen autoritär, immun gegenüber liberalem Gedankengut. Also genau das, was sich viele Deutsche auch im Westen von einem Kanzler wünschen. Ja, nehmen wir das Wort ruhig in den Mund. Wer weiß, was noch kommt! Bei Direktwahlen zum Kanzleramt hätte sie schon heute Chancen.
IV.
Positiv formuliert: Sahra Wagenknecht ist unangepasst. Sie lässt sich in keine Schublade stecken, verkörpert bürgerliche Werte. Sie ist eigensinnig, galt in der DDR als „nicht kollektivfähig“ und durfte deshalb nicht studieren. Dennoch trat sie noch spät in die SED ein, verteidigte ein Regime, mit dem sie nichts am Hut hatte, schloss sich sogar der kommunistischen Plattform an: eine Trotz-Reaktion. Geradezu altmodisch mutet sie manchmal an, und auch deshalb ist sie hier und heute so erfolgreich, denn sie verkörpert politische Tugenden, die ausgestorben scheinen.
V.
Sie hat das Zeug dazu, das Parteiensystem der Republik nachhaltig zu verändern. Wenn, ja, wenn der Lack nicht schnell absplittert. Sahra Wagenknecht ist ein nicht ganz unkomplizierter Mensch in seinen Widersprüchen. Derzeit ist sie vor allem eine Projektion. An sie knüpfen sich Erwartungen, Sehnsüchte, die niemand in der Politik erfüllen kann. Am Ende des Tages auch sie nicht. Das ist für sie selbst die größte Gefahr. Einmal an der Regierung würde die Realität sie noch schneller einholen als in der Opposition. Mit ihrem Erfolg beginnt die Verwandlung von einer Protest-Bewegung in eine hundsgemeine Partei. Irgendwann geht der Lichtgestalt der Strom aus.