Tichys Einblick
Nummern 3 und 5 im Glashaus

Rhetorik als Mittel der Demokratie

Die Demokratie braucht keine Sprachpolizei, sondern eine Justiz, die die Freiheit des Wortes schützt, selbst dort, wo Sprache missbraucht wird. Abgesehen von Beleidigungen und Verleumdungen müssen alle Worte frei sein, ob man sie ablehnt oder nicht.

Der Verfassungsgerichtspräsident rügt die Rhetorik der Asyldebatte. Die Kanzlerin tut es auch. Bei näherem Hinsehen, sitzen beide im Glashaus. Anlass zu einigen grundsätzlichen Gedanken zur Rhetorik als Mittel der Politik.

I.

Angesprochen auf Seehofers „Herrschaft des Unrechts“ sagte Voßkuhle: „Eine solche Rhetorik halte ich für inakzeptabel. Sie möchte Assoziationen zum NS-Unrechtsstaat wecken, die völlig abwegig sind.“ Was wiederum Seehofer für „nicht akzeptabel“ hält. Ein Verfassungsrichter sollte „nicht Sprachpolizei“ sein. Die Demokratie braucht überhaupt keine Sprachpolizei, sondern eine Justiz, die die Freiheit des Wortes schützt, in all ihren rhetorischen Ausprägungen, selbst dort, wo Sprache missbraucht wird. Abgesehen von Beleidigungen und Verleumdungen müssen alle Worte frei sein, ob man sie ablehnt oder nicht. Tatsächlich ist das nicht der Fall. Rhetorische Mittel werden in Deutschland beargwöhnt, aber nicht vermittelt und trainiert. Denn in Wahrheit wird Streit verabscheut, also auch seine rhetorischen Mittel.

II.

Die einen sagen, Rhetorik sei lediglich Mittel zum Zweck. Die anderen verlangen, dass die Kunst der Rede stets der Wahrheit und der Moral zu dienen habe. Dieser Streit ist so alt wie die Rhetorik selbst, beschäftigte schon die antiken Griechen. Ich meine: Die Moralisierung der Rhetorik schwächt den demokratischen Diskurs. Die Kunst der Rede ist ein wichtiges Mittel der Mehrheitsbildung, aber keines, dass der Wahrheit verpflichtet sein muss. Welche Wahrheit auch immer, sie darf und muss mit allen rhetorischen Mitteln bezweifelt werden dürfen. Alles andere gefährdet die Freiheit.

III.

Die Glaubwürdigkeit des Redners ist natürlich eine Voraussetzung wirksamer Rhetorik. Aber ohne Argumente kommt er nicht aus. Schon Aristoteles allerdings wusste, dass der Sender nicht ohne den Empfänger zu verstehen ist – der emotionale Zustand des Publikums ist mitentscheidend dafür, was Rhetorik bewirkt.

IV.

Bei Griechen und Römern war Rhetorik zentraler Bestandteil der Ausbildung ihrer Eliten. Die angelsächsischen Länder (wo der Parlamentarismus sich als rhetorische Schule der Nation erwies) und Frankreich (wo die Revolution die öffentliche Rede ins Zentrum rückte) liegen in dieser Hinsicht noch immer weit vor Deutschland. Die vorherrschende idealistische Geisteshaltung in Deutschland lehnte die rhetorischen Mittel der Rede ab, schwärmte statt dessen von der unverbildeten Kraft der Seele und des Herzens. Goethe bezeichnete die Rhetorik gar als Schule des Verstellens. Rhetorik wurde Opfer einer moralisierenden Abwertung – und so ist das bis heute. Der eher linke Walter Jens (verstorbener Inhaber der bis heute einzigen Rhetorikprofessur in Deutschland!) begründete das schlechte Ansehen der Rhetorik in Deutschland auch mit dem Feudalismus. Das Untertanendenken habe Sprachkraft zerstört. Der gute Deutsche rühmt die Tat und verachtet die freie Rede. Kein Wunder, dass die rhetorisch unterbelichtete Zivilgesellschaft anfällig wurde für faschistische und kommunistische Propaganda. Die dem rhetorischen Diskurs entwöhnte, entpolitisierte „Mitte“ sieht heute entsetzt, wie Rhetorik in der politischen Auseinandersetzung plötzlich ein neues Gewicht bekommt.

V.

Vor der Bundespressekonferenz beklagte sich die Kanzlerin jüngst darüber. Sie sagte: „Ich messe der Sprache auch eine sehr, sehr große Bedeutung zu. Ich persönlich werde mich immer wieder sehr gegen bestimmte Erosionen von Sprache wenden, weil ich glaube, dass es auch Ausdruck von Denken ist. Deshalb muss man sehr vorsichtig sein. Ich glaube, das haben ja auch einige jetzt schon versucht zu beherzigen. Das ist ein Ausdruck politischer Kultur. Er kann Spaltung auch befördern.“

Dieser holprige, syntaktisch wie rhetorisch unterbelichtete Redeschwall widerlegt die Behauptung, die Amtsinhaberin messe der Sprache hohe Bedeutung zu. Darüber hinaus, irrt sie auch in der Sache. Was Merkel Erosion nennt, ist tatsächlich der Vulkanismus von Sprache. Auch, wenn es ihr nicht gefällt, Sprache lässt sich so wenig wie Denken unterdrücken.

VI.

Merkel sagte unmittelbar danach noch etwas Richtiges, wenn auch sich selbst Widersprechendes: „Aber jede Art von Auseinandersetzung, von Streit, nun zu vermeiden, damit die Gesellschaft nicht gespalten erscheint – ich glaube, Versöhnung in einer Gesellschaft kann nur durch das Austragen von Meinungsverschiedenheiten geschehen. Die Form, in der das passieren muss, ist sicherlich noch verbesserungsfähig.“

Würde sie sich nur selbst daran halten. In Wahrheit hat sie mit Floskeln („Wir schaffen das“) und Diskussionsverboten („Scheitert der Euro, scheitert Europa“), dem politischen Diskurs in Deutschland Schaden zugefügt. Die Spaltung, die sie beklagt, ist eine Folge davon.

VIII.

Präsident Voßkuhle über „Populisten“: „Populistische Politiker gehen von einem homogenen Volk aus und geben vor, genau zu wissen, was dieses Volk will. (…) Wer sie kritisiert, ist daher ein Feind des Volkes und muss bekämpft werden. Das ist dann schnell jeder, der nicht der Mehrheitspartei zugehörig ist.“ Wenn das die Definition von Populismus ist, ist auch Merkel eine Populistin. Dann aber weiter: „In dem Konzept der Demokratie, wie es dem Grundgesetz zugrunde liegt, gibt es dagegen eine Opposition, die zur Mehrheit werden kann, gibt es einen demokratischen Austausch mit dem politischen Gegner, der zu richtigen Lösungen führen soll, gibt es Abgeordnete mit einem freien Mandat.“

Wo lebt der oberste Richter? Im Elfenbeinturm der Theorie. Wir kennen de facto keinen Abgeordneten mit freiem Mandat. Der Austausch mit der größten Oppositionspartei wird von allen anderen Parteien systematisch abgelehnt. Das mag gute Gründe haben. Aber weil es so ist, ist unbegrenzte Rhetorik keine Stilfrage und keine Frage der Moral, sondern Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.

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