Zur Halbzeit der Ampel (ich gehe davon aus, dass es bei einer Wahlperiode bleibt) ist das Vertrauen der Wähler in die Regierung auf einem Tiefststand. Nicht nur in die Regierung – zunehmend auch in die Demokratie. Das ist das Problem.
I.
Die Selbstzufriedenheit des Bundeskanzlers trägt gleich zwei Augenklappen. Der Mann ist von der Brillanz seines Wirkens begeistert. Nur leider sei das Regieren zu laut. Zu laut für das Volk, das lärmempfindliche. Ist es doch brauchbar nur im Zustand des Eingelulltseins.
II.
Regierende wie der Kanzler gehen davon aus, dass das Volk die Macht an sie delegiert, um in Ruhe Radieschen pflanzen, Kinder und Hunde hüten, für die nächsten Ferien sparen und vor der Glotze in Ruhe verblöden zu können. Selbst, wenn es so wäre, wäre es ein Irrtum. Repräsentative Demokratie ist kein Freibrief für die Repräsentanten. Sie entlässt das Volk auch nicht aus der Verantwortung für das, was in seinem Namen geschieht. Viele Bürger halten die parlamentarische Demokratie für eine Art Befreiung von der Teilnahme an den res publica, den öffentlichen Angelegenheiten. Demokratie ist aber kein Freibrief, weder für die da oben noch für die da unten.
III.
Darin zeigt sich die Achillesferse der repräsentativen Demokratie. Sie beruht auf dem Prinzip, Macht auf Zeit zu delegieren. Darüber wird in der politischen Praxis verdrängt, wer der Souverän ist. Souverän ist und bleibt das Volk. Souverän setzen sich die Gewählten, die ihre Macht nur geliehen haben, darüber hinweg. Der Begriff Volk ist womöglich bei den grünen Machthabern schon deshalb verpönt. Sie wollen ihren Souverän erziehen, aber doch nicht seinen Willen vollziehen. Wo käme man denn da hin?
IV.
Repräsentantin des Volkes ist übrigens nicht die Regierung, sondern das Parlament. Auch das wird oft vergessen, vor allem von den Parlamentariern selbst. Ausgerechnet ihre Präsidentin Bärbel Bas fällt zur verheerenden Halbzeitbilanz nichts Besseres ein, als eine Rüge der parlamentarischen Umgangsformen. Sie sagte: „Wir können Menschen“ (wen denn sonst, doch nicht Tiere, aber so falsch klingt es, wenn das Wort „Deutsche“ unbedingt vermieden werden soll) zu „mehr Mitwirkung nur inspirieren, wenn die Debatten im Plenum des Bundestags sachlich und respektvoll geführt werden.“ Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Zunahme der Ordnungsrufe. Die Frau beweist damit ihren horrenden Realitätsverlust. Tatsächlich trottet und trottelt der Bundestag brav und zahnlos den grün-roten Direktiven hinterher. In jeder Woche liefert es dazu neue, eklatante Beispiele. Wieso lässt das Parlament zu, dass eine Ministerin vor dem zuständigen Innenausschuss die Aussage verweigert? Den fälligen Untersuchungsausschuss gegen Bundeskanzler Olaf Scholz in der Cum-Ex-Affäre verhinderte ebenfalls der Bundestag. Und wieso wird das Heizungsgesetz erneut durchgewunken, statt in den Gremien des Parlaments detailliert diskutiert. Dazu ist von der Frau Präsidentin kein Wort zu vernehmen.
V.
Nötig sind endlich offene Debatten. Mehr Auseinandersetzung, mehr Härte, mehr Schärfe, mehr Unabhängigkeit der gewählten Volksvertreter. Über Bonn hat man einst gespottet, es sei nur halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, doch doppelt so tot. Berlin ist zehn mal so groß wie Bonn, aber sein Parlament nicht halb so lebendig wie das der Bonner Republik. Nicht nur Kontrolle, vor allem auch Diskurs ist das Wesen der Demokratie. Wenn die Repräsentanten des Volks dazu nicht in der Lage sind, und das Parlament die Regierung nicht wirksam kontrolliert, muss der Souverän sich bemerkbar machen – nicht nur in Umfragen und bei gelegentlichen Wahlen.
VI.
Gewählt zu sein, ist kein Freibrief dafür, die Republik nach eigenem Gutdünken in den Abgrund zu wirtschaften, keine Rechtfertigung dafür, Schuldenberge für Sondervermögen auszugeben. Die repräsentative Demokratie ist keine Rechtfertigung dafür, dass es der Republik an Fachpersonal für demokratische Sitte und Anstand mangelt. Eine teils einfältige, teils verpeilte, teil ideologisch radikalisierte Regierung fällt nicht vom Himmel. Sagen wir es in einfacher Sprache, (die ja für besonders demokratisch gehalten wird): Indem die Regierung das Volk verarscht, verarscht sich das Volk selbst. Das nennt man Demokratie.
VII.
Etwas komplizierter ausgedrückt: Dekadenz und Demokratie stehen nicht nur klanglich in einem Zusammenhang. Der ist für die innere Freiheit einer offenen Gesellschaft die größte Gefahr. Deshalb lautet die entscheidende Frage in der gegenwärtigen Multikrise: Wann wachen die Bürger auf, wann und wie waltet der Souverän? Die Antwort kann nur lauten: Wenn er sich mit dem Vertrauensverlust nicht länger resigniert abfindet. Wenn er unter Freiheit nicht länger nur Freiheit von den Zumutungen der Politik begreift, sondern Freiheit zur Einmischung. Wenn er nicht länger den Regierenden Gehorsam entgegen bringt. Wenn er sich auflehnt gegen die Zumutungen von der Energiepolitik bis zur um sich greifenden Wokeness. Wenn er Staatstreue nicht länger verwechselt mit Treue zur aktuellen Staatsmacht. Wenn er mehr Anarchie wagt.