Es ist kein Zufall, dass Nawalnys Hinrichtung vollzogen wurde, als sich „der Westen“ im Bayerischen Hof zu München bei der Wehrkundetagung mit magerem Resultat den Anschein von Geschlossenheit und Entschlossenheit zu bekunden bemühte. Dummerweise ist Russland nicht zu besiegen und mit den bisher zur Verfügung gestellten Mitteln nicht einmal davon abzuhalten, das Nachbarland Ukraine zu zerstören. Der Mord an Nawalny ist quasi die Zunge, die Putin dem Westen herausstreckt.
I.
Von Mord zu sprechen, ist keine Verschwörungstheorie, es war auch nicht der einzige. Die fast gleichzeitige Liquidierung des desertierten Hubschrauberpiloten Kusminow in Spanien zeigt erneut: Nawalny wäre seinen Häschern wohl auch in Deutschland auf Dauer nicht entkommen. Nur die barbarischen Straflager wären ihm erspart geblieben. Menschen, die bereit und fähig sind zum Martyrium, gibt es auch in Russland nicht viele. Sie kann der durchschnittliche deutsche Hedonist ohnehin nicht verstehen. Was hatte er denn davon? Doch wohl nicht die Hoffnung, noch zu Lebzeiten Putin stürzen und Demokraten wie ihn regieren zu sehen. Es spielt aber keine Rolle, ob Nawalny sich für’s Vaterland aufgeopfert hat oder für den eigenen Nachruhm. Ist nicht bei uns gerade dauernd von „Zeichen setzen“ die Rede?
II.
Auch Scholz schwankt weiter. Verbal rüstet er auf, bei den tatsächlichen Waffenlieferungen zögert seine Koalition nach wie vor. Denn alles, was die Angst der Deutschen vor Krieg anfacht, ist im beginnenden Dauerwahlkampf schlecht. Wehrhaftigkeit ist hierzulande so aus der Mode wie die bequeme Überzeugung im Trend, man müsse mit Gestalten wie Putin nur reden, der sei doch auch nur ein Mensch, wenn auch keiner wie du und ich. Schließlich habe ihn der Westen lange genug gedemütigt. Das ist Küchenpsychologie, keine Realpolitik. Man muss in Putin ja keineswegs ein Monster sehen, um sein Regime zu begreifen. Es genügt schon, sich die Logik seines Geschichts- und Menschenbildes vor Augen zu halten. Mafia-Methoden nach innen, militärische Aggression nach außen. Alles unter dem Motto: Russland, Russland über alles, über alles in der Welt – vor allem über Recht und Freiheit. Und was für eine Illusion, Russlands Gesellschaft für demokratiefähig zu halten! Nawalny repräsentierte nur die Minderheit einer Minderheit.
III.
Putin als Väterchen Russland zu verharmlosen, fällt nicht nur den von Pazifismus imprägnierten Deutschen ein. Ein weiteres Motiv, das Putin hierzulande Kredit verschafft, kommt hinzu. Es ist tiefsitzender Antiamerikanismus, der mit unterschiedlichen Motiven Rechts und Links, Nationalisten und Kommunisten vereint. Beide lehnen die Kultur des Westens ab. Individualismus, persönliche Freiheit passen denen nicht, die sich kollektivistischen Ideologien verschrieben haben. Die grassierende Russophilie war selbst zu Zeiten der schönsten Gorbimanie abwegig. Sie ist, umweglos formuliert, ein aus der nationalistischen Vergangenheit Deutschlands in die Gegenwart ragendes Motiv. Hitler und Stalin waren nun einmal Brüder im Geiste. War nicht, als die DDR sich der Bonner Republik anschloss – oder war es umgekehrt? – ein oft und gern gehörtes Argument, nun müsse sich Deutschland endlich wieder dem Osten zuwenden, dem Brudervolk, und damit die Bindung zum Westen politisch und kulturell lockern? So ist auch der Spruch zu verstehen, Russland gehöre nun mal zu Europa. Antiwestliche Impulse lassen die Deutschen auch immer wieder auf Sonderwege geraten, wie ja auch in der Energiepolitik mit der verheerenden Abhängigkeit vom russischen Gas. Die angelsächsische Vorstellung von Liberalismus, das individuelle Streben nach Glück – Pursuit of Happiness – war den Deutschen nie geheuer. Die Bürger sind für den Staat da, statt umgekehrt. Ja, es hängt vieles miteinander zusammen in diesem Krieg.
IV.
Das Vertrackte ist dabei nur: Die Ukraine einfach zu einem Teil des Westens zu erklären, ist ebenfalls ziemlich abwegig. Sie erst in die Nato und dann in die Europäische Union aufzunehmen, was auf dasselbe hinausliefe, wäre selbstzerstörerisch. Abgesehen davon würde es die Finanzkraft der EU sprengen, die Ukraine wäre, wie gerade ausgerechnet wurde, der mit Abstand größte Geldempfänger der Gemeinschaft. Auf diese Weise die EU zu beschädigen, käme manchen im Lande ohnehin gelegen.
V.
Putins Vorteil ist es, dass ihn im Westen die einen nicht verstehen können, die anderen nicht verstehen wollen. Da sind die, die sich für Putinversteher halten und noch immer an Wandel durch Handel glauben. Da sind andere, die den Westen als Wertegemeinschaft ablehnen. Und wiederum andere, denen Kriegsangst den Verstand trübt. Aber wie man Putin auch wendet und dreht: Wenn der Westen sich nicht zur Wehr setzen will oder kann, gilt am Ende das Merkelsche Nonchalance-Prinzip – zu Deutsch haltungsfreie Wurschtigkeit: Jetzt sind sie halt da, die Russen. So wie der Islam halt auch schon da ist. Werte müssen verteidigt werden. Aber dazu müssten sie erst einmal geteilt werden.