Tichys Einblick
Parteien repräsentieren nur noch sich selbst

Wie lässt sich unsere Demokratie erneuern?

Es ist gewiss ein langer Weg, bis die Berufspolitiker und ihre Organisationen, die Parteien, nur noch eine beratende Rolle spielen werden. Ein Auslaufmodell sind sie schon heute.

An ihre Reformierbarkeit glauben nicht einmal die Parteien selbst. Die Reformbedürftigkeit der parlamentarischen Demokratie aber steht außer Zweifel. Denn sie ist mit den zum größten Teil selbst verschuldeten Krisen überfordert. Parteien maßen sich Entscheidungsmacht an, halten den Staat in ihren Fängen. Wer biegt die verkrümmte Demokratie gerade? Wer von einem neuen Führer träumt, hat nicht alle Latten am Zaun. Nicht wer ist die Frage, sondern was. In einer dem Individuum und nicht kollektivistischen Ideologien verpflichteten Demokratie – und eine andere gibt es nicht – gibt es nur einen Ausweg: Es gilt, das auf Parteienherrschaft beruhende Berufspolitikertum nach Kräften zu schwächen.

I.

Der Kern der Malaise hat zwei Aspekte. Die eine: Die traditionellen Parteien entstanden, als die Gesellschaft noch aus wenigen großen Teilen mit klaren Interessen bestand, Klassen, Schichten Milieus. Das ist nicht mehr so. In dieser Hinsicht von einem Zerfall oder gar von Spaltung zu sprechen, ist falsch. Tatsächlich ist es ein Gewinn, wenn die moderne Gesellschaft disparater und vielfältiger wird, ihre Mitglieder sich immer stärker unterscheiden und deshalb nicht mehr großen Gruppen zurechnen lassen. Die Parteien repräsentieren nicht mehr große Teile der Gesellschaft, sondern nur noch sich selbst. Immer weniger Wahlberechtigte fühlen sich von den Gewählten tatsächlich vertreten. Zum anderen verschärft eine alle anderen Krisen überwölbende Vertrauenskrise das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den gewählten Politikern. Oder wie es der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer in seinem vorzüglichen neuen Buch „Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert“ auf den Punkt bringt: „Die Krise besteht nicht darin, dass wir unserer Mitbestimmung müde geworden wären, sondern darin, dass wir zur Mitbestimmung noch nicht wirklich die Möglichkeit haben.“

II.

Es gibt also nur einen Ausweg: Die Möglichkeiten der Mitwirkung müssen erweitert werden. Mehr direkte Demokratie? Ja. Doch nicht jede Form direkter Demokratie ist zielführend. Mit ein paar Volksentscheiden ist es nicht getan, solange die Parteien Regie führen und über ihre medialen und staatlichen Instrumente Inhalte und Prozedere steuern. Direkte Demokratie muss mehr sein als ein Ja oder Nein zu bestimmten Projekten. Von großen Plebisziten mögen diejenigen phantasieren, die glauben, sie hätten sich das Volksinteresse oder gar den Volkswillen auf die Fahnen geschrieben. Es gibt keinen Volkswillen, weil es das Volk als geschlossene Einheit nicht gibt, ja, nie gegeben hat. Linke wie rechte Ideologen haben immer nur vom Volkswohl getönt – es gab das nie. Und das ist gut so, weil der Staat ohnehin die Freiheit des Individuums ohnehin schon nach Kräften bedroht und einschränkt. Die Berufung auf das „Volk“ macht alles nur noch schlimmer.

III.

Die ganze Rechtfertigung der Berufspolitiker besteht in der falschen, wenn auch verfassungsmäßigen Behauptung, sie repräsentierten das ganze Volk. In Wahrheit repräsentieren sie nur die Machtinteressen ihrer Klientel und ihres Funktionärskaders. Wozu überhaupt brauchen wir noch unfreie, abhängige Berufspolitiker? Es gibt zu viele davon, und die vielen sind im Durchschnitt viel zu lange im Amt und abhängig von parteipolitischen Hierarchien. Schon in der ersten Demokratie, im alten Athen, war es die Pflicht aller Bürger auf Zeit öffentliche Ämter zu übernehmen. Teilnahme war mehr, als sich repräsentieren zu lassen.

IV.

Gemessene Stimmungen sind etwas anderes als tatsächliche Abstimmungen aller, die sich zuvor intensiver natürlich mit den Dingen befassen müssten. Deshalb käme es nicht auf gelegentliche Volksentscheide zur Rechtfertigung von Entscheidungen hauptamtlicher Parteifunktionäre an, sondern auf den ununterbrochenen Verständigungsprozess möglichst aller. Um noch einmal den Philosophen Sommer zu zitieren: „Nicht Einheitlichkeit, Geschlossenheit, sondern Verschiedenheit, Individualisierung heischen nach direkt-partizipatorischer Demokratie.“ Die Schweiz macht vor, wie das geht. Davor haben deutsche Parteien Angst, alte und auch neue, sobald sie einen Zipfel der Macht in der Hand halten. Die sich einst basisdemokratisch gerierenden Grünen sind der Beweis.

V.

In den großen Krisen der Gegenwart (Corona, Energie, Lebenshaltungskosten) zeigt sich, wie fatal es ist, die großen Entscheidungen ganz wenigen Berufspolitikern zu überlassen, die ja nicht einmal für Verwaltungsaufgaben taugen. Die Wahrheit ist: Sie wissen nichts besser, als jeder gut informierte Bürger ebenfalls wissen kann. Wie im alten Athen per Los ernannte Abgeordnete würden nicht schlechter entscheiden als Berufsfunktionäre, wahrscheinlich besser, weil sie unabhängiger wären und auf dem festen Fundament ihrer Berufserfahrung stünden.

VI.

Es ist gewiss ein langer Weg, bis die Berufspolitiker und ihre Organisationen, die Parteien, nur noch eine beratende Rolle spielen werden. Ein Auslaufmodell sind sie schon heute. Wie der Philosoph stelle ich mir eine Demokratie vor, die nicht mehr eingepfercht ist von ideologischen und parteipolitischen Zwängen, sondern in der sich jeder „selbst als politischer Persönlichkeit Profil geben kann“. Das hört sich noch nach einer Utopie an. Aber entweder wird sie einmal real, oder es wird gar keine Demokratie mehr geben.

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