Die Vereinigten Staaten von Europa: Ja, sie sind eine Vision, an der auch ich mich begeistern würde. Noch immer. Würden nicht diejenigen die Vision ruinieren, die sich als Visionäre aufspielen.
I.
Die Vereinigten Staaten von Europa? Was könnte, sollte, müsste das sein? So etwas wie eine große Schweiz? Vielsprachig, konsequent föderalistisch, patriotisch aus Vernunft. Klar, davon hat die Generation der Politiker geträumt, die den Irrsinn des Kriegs in Europa noch erlebt hat. Südtirol und Bayern, Holland und Rheinland: Regionen finden zueinander, die schon immer zusammengehören. Europa als abendländischer Kulturraum. Vielsprachig, vielstimmig, aber auf gemeinsame Überzeugungen gebaut. Und darüber gemeinsame Institutionen, die das leisten, wozu die Regionen nicht imstande sind. Äußere Sicherheit, Handelsfreiheit. Europa, nicht als Wunschkonzert sondern als Handlungsrahmen.
II.
Statt dessen glaubten die Regierungen der Nationalstaaten, sie könnten den Nationalismus zähmen, indem sie einen Supernationalstaat bauen. Die Absurdität schäumte nach 1989 über. Statt sich auf das Wesen Europas zu besinnen und zum Anliegen aller seiner Bürger zu machen, begannen die politischen Eliten den Turmbau zu Brüssel, ließ sich die EU auf eine nicht beherrschbare Erweiterung ein. Statt Wirtschaftsräume zu gestalten, stürzten sich die meisten europäischen Staaten in das Abenteuer des Euro. Statt die Demokratie auf ein gemeinsames Fundament zu stellen, etablierten sie demokratisch kaum kontrollierte Bürokratien. Und an allem, was sie selbst versäumten, gaben sie Europa die Schuld, während sich die Massenmedien für Europa erst zu interessieren begannen, als die Krisen Schlagzeilen machten.
III.
Statt diesen Missstand zu beseitigen, jaulen Merkel und Schulz die europäischen Sterne an. Die aber schweigen. Die Bundeskanzlerin ist ebenso wenig Mustereuropäerin wie Martin Schulz. Die Behauptung, ganz Europa schreie nach ihrer Führung, ist falsch. Erneut wird die europäische Vision missbraucht für parteipolitische Zwecke. Es ist absurd, Merkels Kanzlerschaft damit zu begründen, Europa brauche sie. Es ist umgekehrt: Merkels Koalition hat mit ihrer „Euro-Rettung“ und der offenen Grenzen der Europäischen Union fatale Schläge versetzt, von denen sie sich nicht erholt hat. Diejenigen, die an den Wunden Schuld sind, sollen das Opfer verarzten. Böcke als Gärtner.
IV.
Und was soll das Geschwätz über das europäische Demokratiedefizit, solange solches Defizit die Berliner Politik selbst bestimmt. Was halten Politiker von Bürgern, denen alles zugemutet werden soll, bloß nicht ihr höchstes Recht: das Wahlrecht. Neuwahlen sollen unter allen Umständen verhindert werden. Dies dient einzig und allein dem Machterhalt Merkels. Wer nein sagt zu Neuwahlen, sagt auch nein zur demokratischen Lösung der Krise der Parteien. Wie in den europäischen Angelegenheiten bemühen sich die herrschenden Parteien auch auf nationaler Ebene darum, den Bürgern die Entscheidung aus der Hand zu nehmen. Und der Bundespräsident spielt mit. Das ist die bittere Wahrheit dieser Regierungsbildung und die bittere Wahrheit der gegenwärtigen europäischen Reformdebatte.
IV.
Zurück zur Vision. Zu den größten Errungenschaften der europäischen Kultur zählt die Polyphonie. Sie ist in keiner anderen Kultur auch nur annähernd so weit entwickelt wie in der europäischen Musik. Ihre schönste Blüte ist das Symphonie-Orchester, die höchste Form musikalischer Komplexität. Nicht einfach Vielstimmigkeit und Klangvielfalt, vielmehr das wunderbare Zusammenspiel vieler selbstständiger und unabhängiger Stimmen. Insofern ist die Polyphonie auch ein Ausdruck dafür, was Europa im besten Sinne sein könnte.
V.
Das Bild ist durchaus belastbar. Braucht das europäische Orchester einen Dirigenten? Nicht unbedingt. Schon gar keinen, der das Wesen der Polyphonie nicht begreift. Unverzichtbar sind die Stimmführer der einzelnen Instrumentengruppen, virtuose Solisten, die sich dennoch einfügen ins gemeinsame Klangbild. Das Stück auf den Notenpulten hat die gemeinsame Geschichte geschrieben. Im Orchester der Europäischen Union spielen Leute, die nicht einmal Noten lesen können, aber ans Dirigieren denken. Sie stecken alles Geld und alle Mühen in den Bau einer Brüsseler Philharmonie. Erst müssten die Musiker ihre Instrumente und die Harmonielehre beherrschen. Dissonanzen gehören ebenso dazu wie die Harmonie der Akkorde.