Alle Eigenschaften treten nur noch deutlicher hervor. Alle Stärken, alle Schwächen, alle Arten von Unarten. Bei Individuen wie bei Gesellschaften, bei Politikern wie bei Journalisten.
I.
Die Kühnen werden tollkühn. Den Angsthasen rutscht das Herz in die Hose. Die Egoisten zeigen sich noch egoistischer. Jetzt kommt heraus, wer die Freiheit dem Risiko vorzieht – und umgekehrt. Wem Überleben alles ist, dem bleibt Leben nur noch als Kollateralnutzen. Die Blockwarte werden zum Denunziantentum ermuntert. Und viele wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht, je nachdem, welche Talkshow sie zuletzt gesehen haben, welchem Virologen sie zuletzt geglaubt haben. Herumeiern wird zum Ersatz für´s Ostereier suchen.
II.
Die Ungeduld steigt. Das Unvermögen steigt. Die Vermögen schrumpfen. Auch das Vermögen, den eigenen Verstand zu benutzen.
III.
Was es nicht gibt: Eine volonté générale – ein allgemeiner Wille des Volks. Wer daran glaubt, verwechselt Haltungen mit Stimmungen. Das Gerede vom Zusammenhalt ist Geschwätz. Die Krise vereint nicht, sie spaltet tiefer. Vielleicht nicht im Augenblick der kollektiven Schutzhaft, aber bald, wenn die Folgen zu berappen sind. Dann denken alle wieder an ihr Geschäft, ihre Zukunft, ihre Gesundheit, ihr Geld, ihre Ideologie. Die Weltverbesserer überwürzen ihre Suppen schon jetzt mit Moralin: Pfaffen, Klimahysteriker, Klassenkämpfer. Die Kriegsgewinnler wittern Morgenluft. Die Armen leiden mehr als die Reichen. Keine Krise ist gerecht. Und all dem hohlen Solidaritäts-Gesülze wünscht man die Krätze an den Hals.
IV.
Die Nationalisten werden in der globalen Krise noch nationalistischer – und fühlen sich damit besser. Haben sie nicht recht gehabt? Die Antinationalisten fühlen sich jetzt erst recht als Mitglied der Menschheit – und fühlen sich besser. Haben sie nicht noch immer recht? Die Apokalyptiker drehen durch. Bestätigt die Krise nicht den Weltuntergangswahn, in dem sie sich suhlen. Ängste erzeugen nicht bloß Kälte, sondern auch Reibung. Man kann sich in seine Angst kuscheln. Damit ist man nie allein. Die Stoiker suchen das Weite, wissen aber auch nicht mehr wohin.
V.
Es zeigt sich jetzt auch, wie sich der Mangel an Demokratie und die Mängel von Demokratien epidemiologisch bemerkbar machen. Hätte die chinesische Diktatur die Gefahr nicht zu lange geleugnet, hätte das Virus beizeiten bekämpft werden können. Dass China zu spät seine Maßnahmen rigoros durchsetzt, zählt weniger als das Versäumnis zuvor. Das Virus ist ein Freund der Diktatur, weil es den Diktatoren Argumente liefert. Das gilt auch für andere Diktaturen: Iran, Türkei usw. Diktaturen aber wirken verheerend, weil sie das Wichtigste in dieser Krise verhindern: Transparenz und Glaubwürdigkeit der Informationen.
VI.
Präsidialsysteme wie die USA und Brasilien haben den Nachteil, dass sie sich mehr mit der Begrenzung ihrer Präsidenten aufhalten müssen als mit der Begrenzung des Virus.
VII.
Aber auch hierzulande spiegeln sich spezielle Deformationen unserer Demokratie in den Fehlern der Krisenbewältigung. Da wir uns an den Glauben gewöhnt haben, in der besten aller Welten zu leben, sind wir auf das absehbare Risiko nicht vorbereitet gewesen. Wir wissen ja, dass unser Gesundheitssystem unschlagbar ist. Warum aber dreht sich dann alles um die Sorge, ob die Krise das Gesundheitssystem schafft statt umgekehrt? Die staatsgläubige Vollkaskogesellschaft erblüht zu größter Reife. Und zahlt klaglos die Prämien.
VIII.
Wir dürften, heißt nun das Mantra von Regierungspolitikern und Opposition, das Volk nicht durch kontroverse Debatten verunsichern. Das ist nicht nur falsch, sondern infam. Es verunsichern doch nicht die Debatten, sondern der Mangel an glaubwürdigen Informationen. Nichts hätte eine demokratische Gesellschaft nötiger als eine offene, also notwendigerweise auch kontroverse Debatte über den richtigen Weg. Statt dessen stürzen sich die meisten in den Irrglauben, die Wissenschaft handle mit unbestreitbarer Wahrheit. Die Regierung müsse nur den eindeutigen Empfehlungen folgen. Doch gerade in der Wissenschaft gibt es nie nur eine Wahrheit, sonst ist es keine Wissenschaft. Und kein Wissenschaftler kann das Ganze in all seinen Auswirkungen überblicken. Deshalb kann die Politik ihre Verantwortung nicht an die Wissenschaft delegieren. Mit Recht wehren sich immer mehr Virologen und Epidemiologen dagegen, von Politikern missbraucht zu werden.
IX.
Söder ist weder Wunderheiler noch Wunderdiktator vom Dienst. Aber es kommt gut an, wie er das Volk bevormundet. Keiner stellt ihm die simple Frage wie die, was daran falsch sein soll, allein auf einer Parkbank zu sitzen. Oder mit dem Auto in die Natur zu fahren. Oder sich in einem Buchladen ein Buch auszusuchen – es ist genauso lebenswichtig wie eine Tüte Lebensmittel. Doch das Volk applaudiert den Scharfmachern, die mit ihrer Scharfmacherei Verantwortungsbewusstsein nur vorgaukeln. Sie wollen das Volk unter Kuratel halten. So lange bis es sich erschöpft in die Arme des Staates wirft. Bis man ihm seine Bedürfnisse abgewöhnt hat. Dann hat das Virus die Freiheit nachhaltig geschädigt. Es geht schlicht und überhaupt nicht ergreifend um die Frage, wie das Virus für Machtinteressen benutzt wird. Siehe Abschnitt I.: Die Machtbesessenen werden jetzt noch besessener.
X.
Der blödeste, korrekter ausgedrückt unterkomplexeste Satz des Jahres: Gesundheit geht vor. Vor was eigentlich? Und vor was noch? Das wäre die Frage der Stunde! Sie ist nur kontrovers debattierbar. Wenn wir sie nicht debattieren wollen, sind wir krank.