Eine Fahrt mit dem ICE ist wie ein Gleichnis über den Zustand dieser Republik. Ich habe horrendes Geld bezahlt und rechtzeitig gebucht. Was kann da noch schief gehen? Der Zug fällt aber aus. Und nun quetsche ich mich wie andere Vollzahler auch fünf Stunden lang in den Gang des nachfolgenden, wiederum verspäteten Zugs: Erste Klasse, Bahn Comfort. Aber jetzt wird es erst richtig interessant.
I.
Ich lasse mich aus über diesen Staatsbetrieb, der ja eigentlich allen gehört, ernte ringsum aber nur eisiges Schweigen. Niemand, der ein- oder zustimmt. Endlich beschwert sich ein Herr mit Fensterplatz. Über mich. „Ersparen Sie uns das!“ Wer ist „uns“? Ich gehöre offenbar nicht dazu. Und was „ersparen“: Nicht die Unverschämtheiten der Bahn (für die gibt es selbstverständlich ein Beschwerdeformular, damit ist alles ok), sondern die unverschämte Beschwerdeführung. Ein anderer Mitfahrer droht mit einer Schadensersatzklage, weil ich in der Not mit dem Hintern gegen seinen Hartschalenkoffer lehne und ihn angeblich eindelle.
II.
Vier Stunden lang kommt gar kein Schaffner und keine Schaffnerin, auch nicht zur Kontrolle der Fahrscheine. Offenbar hat das Personal beschlossen, die Situation, die in der zweiten Klasse noch viel unerträglicher sein muss, durch Wegschauen, Ignorieren, Abtauchen zu überstehen. Nach einem Personalwechsel endlich eine Schaffnerin. Warum ich mich nicht gemeldet hätte, irgendwie hätte es schon eine Lösung gegeben. Sie entschuldigt sich für ihre Kolleginnen. Nach einer allgemeinen Bemerkung meinerseits über den Zustand der Bahn im Speziellen und des Landes generell meldet sich wieder der Herr mit Fensterplatz. Ich sollte endlich Ruhe geben. Die bemerkenswert fähige Schaffnerin nimmt mich allerdings resolut in Schutz. Es sei mein gutes Recht, von der Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen, weist sie den Fahrgast zurecht, und Recht hätte ich auch.
III.
Was sind das nur für Leute! Ist es die Generation Nach-mir-die Sintflut? Sind es die gut Situierten von der Wir-retten-die-Welt-was-schert-uns-der-Rest-Fraktion? Jedenfalls haben sie Wichtigeres zu tun, als gegen offensichtlichen Missstände direkt vor ihren Augen zu opponieren, solange sie nicht unmittelbar selbst davon betroffen sind. In Ruhe gelassen werden wollen sie. Harmlos ist das nicht. Es zeigt sich die geistige Verelendung des modernen Spießers. Sie folgt dem materiellen Verfall. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Was für ein lausiges Untertanenvolk! Ich sollte mich nicht so aufregen, sagt jemand mit Sitzplatz, schließlich ginge es allen so. Das also ist die neue Solidarität. Hauptsache, man hat seinen eigenen Arsch halbwegs untergebracht und gerettet.
IV.
Offenbar ist jene Mentalität, die schon länger die „Hauptstadt“ unerträglich macht, das berühmte „Alles egal“, zur gesamtdeutschen Gemütsverfassung geworden. Alles scheißegal. Man arrangiert sich nicht nur mit dem Mangel, sondern auch noch mit dem Versagen, das den Mangel hervorruft und verstärkt. Die meisten Bürger lassen sich alles gefallen, und gefallen sich in einer merkwürdigen Wurstigkeit, die sie für Disziplin halten.
V.
Womit wir bei den berühmten deutschen Sekundärtugenden wären. Sie bringen nichts, wenn sie zu nichts anderem gut sind, als den Bürger zum vorbildlichen Untertanen zu dressieren. Denn wenn Fleiß, Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Disziplin nicht für beide Seiten gleichermaßen gelten, für die Kunden wie für die Institutionen des Staates, dann sind diese Tugenden nichts wert, dann dienen sie nur der Unterdrückung. Und im Übrigen: Was nützen fleißige Politiker und Beamte, – sie sind fast alle fleißig -, wenn ihnen Verstand und die Kompetenz fehlen, also eine Mentalität zuschlägt, die nicht unter den Sekundärtugenden zu finden ist.
VI.
„Sie haben ja Recht“, sagt endlich jemand. Ein unüberhörbares „aber“ schwingt mit. Aber Sie benehmen sich daneben. Der brave Bürger macht kein Trara. Er ist bloß brav, hält still, schluckt, was man ihm serviert. Er verschluckt sich zwar manchmal daran und kriegt keine Luft mehr, rechnet aber damit, dass er schon wieder zu Atem kommen wird. Nur Geduld!
VI.
Wie gesagt, es ist nur ein Gleichnis: Deutschland hat nicht nur eine dysfunktionale Bahn. Es ist ein Land wie seine Bahn, ein in vielen Bereichen untauglich gewordenes Gemeinwesen. „Das Land ist am Arsch“ flüstert gerade jemand. Ja, deshalb sollte man nicht sitzen bleiben, nicht einmal auf einem lächerlichen, leicht zu verbeulenden Hartschalenkoffer made in Germany.