Vier höchst unterschiedliche Beispiele aus den letzten Tagen, große und kleine, zeigen, wie fundamental sich dieses Land verändert hat.
I.
Das zum Beispiel ist „neue Normalität“ in der Hauptstadt: Ich verlasse das Haus, um mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren. Die U-Bahn fährt nicht. Aber auf der Straße, die vor ein paar Tagen erst für Autos gesperrt wurde, hält die vom Senat betriebene Initiative „Volksbegehren autofreies Berlin“ gerade eine Pressekonferenz ab. Zugleich ist zu lesen, dass die Polizeipräsidentin der Stadt eine Kennzeichenpflicht für Fahrräder fordert. Es wäre einmalig auf der Welt. Früher hätte man gesagt: Dümmer als die Polizei erlaubt. Wer diese drei Dinge zusammen nimmt, kann nur zu dem Urteil kommen: Berlin ist längst von einem geistigen Lockdown erfasst. Die Stadt ist bereits hirntot. Corona ist gar nicht mehr nötig.
II.
Zweites Beispiel: Monika Maron hat einen festen Platz in der Literaturgeschichte, spätestens seit sie vor vierzig Jahren die Umweltzerstörungen in der DDR in ihrem Roman „Flugasche“ geißelte. Von der DDR-Zensur verboten, veröffentlichte der westdeutsche S.Fischer Verlag das Buch. Jetzt will dieser Verlag von seiner berühmten Autorin keine Prosa mehr drucken. Die Begründung ist so scheinheilig wie vorgeschoben. Maron hat – keineswegs vertragswidrig – ein paar alte Texte nachdrucken lassen im Verlag Buchhaus Loschwitz ihrer Freundin Susanne Dagen. Der Kleinverlag hat keinen Vertrieb. Den übernimmt u.a. die Versandbuchhandlung Antaios des sehr rechten Höcke-Freundes Kubitschek. Dort kann man natürlich auch alle S.Fischer-Romane bestellen. Alle Verlage generieren durchaus nennenswerte Umsätze auch mit sehr rechten Versandbuchhändlern wie Antaios oder Kopp, die sich wiederum von Barsortimentern beliefern lassen. Es wird von den Verlagen nur schamhaft verschwiegen. Seit wann stinkt Geld! Monika Maron aber wird abgestraft.
In Wahrheit nicht dafür, sondern aus ideologischen Gründen. Ihre Romane behandeln zwar Themen, die in allen Gassen diskutiert werden – Islamisten, illegale Zuwanderung, Gender-Deutsch – aber eben nicht korrekt genug. Waren Widerborstigkeit, Unabhängigkeit und Unangepasstheit einstmals wichtige Sekundärtugenden in diesem Gewerbe, gelten sie heute schlicht als rechts. Früher wären nach so einem Rausschmiss Kolleginnen und Kollegen der Autorin auf die Barrikaden gestiegen. In der neuen Normalität rührt sich kaum eine Edelfeder. Das ist beschämend. Die Meinungsfreiheit wird nicht einmal von denen verteidigt, die davon leben. Im Gegenteil. Es ist anzunehmen, dass linke S.Fischer-Autor*innen, vielleicht auch eine einflussreiche Agent*in und/oder Mitarbeiter*innen des Verlags schon lange Druck machen auf die Verlegerin, die nun nachgibt, Maron entsorgt, sich zugleich aber dem öffentlichen Diskurs verweigert. Es sind Gruppen, „die ihre eigene Ethik, Moral und Ausschlusskriterien haben“, so der Schriftsteller Peter Schneider, kein S.Fischer-Autor und einer der wenigen Aufrechten, die Maron zur Seite springen. Wie solcher Druck funktioniert, war auch beim Rowohlt-Verlag zu sehen, als Autoren offen forderten, die Erinnerungen von Woody Allen nicht zu veröffentlichen. Der deutsche Verleger Allens hielt diesem Druck stand. Nicht aber die Verlegerin Siv Bublitz von S.Fischer. Gab es Heckenschützen im eigenen Laden? Die Antwort auf meine schriftliche Frage wurde verweigert. Warum ist von der Spitze des Holtzbrinck-Konzerns, zu dem S.Fischer gehört, zum skandalösen Anschlag auf die Meinungsfreiheit nichts zu hören? Weil der Gruppendruck aus dem Juste Milieu zur neuen Normalität in diesem Land gehört.
III.
Das zeigt auch Beispiel drei. Da druckt die Süddeutsche Zeitung eine polemisch gepfefferte Kritik am Pianisten Igor Levit. Er spielt unentwegt grandios Klavier, sendet aber auch fortwährend schlichte politische Tweets in die Welt. Die Frechheit des Musikkritikers Helmut Mauró bestand darin, beides miteinander zu verquicken. Er hatte an beidem etwas auszusetzen, an der Anschlagskultur der Levit-Finger wie an der politischen Anschlagskultur des Bürgers Levit. Ja, so etwas soll möglich sein, auch wenn es nicht sonderlich fair ist. Das muss sich auch der Feuilletonchef des Blattes gedacht haben, der mit dem langen Artikel aufmachte. Und er muss auch gewusst haben, dass Levits Gemeinde einen veritablen Shitstorm veranstalten würde. Levit wird gerade deshalb verehrt, weil er politische Gesinnung und Klavierspiel zu einer einzigen Anschlagskultur vereint. Der unantastbare Tastenkünstler, der Böhmermann des (linken) Flügels, kann die Attacke aushalten. Und das langweilige SüZ-Feuilleton kommt endlich mal wieder ins Gespräch. Sollte man meinen. Doch die Sache wurde sofort ins Moralische verdreht. Levit ist Jude, also konnte die Kritik an ihm nur antisemitisch gewesen sein. Mindestens. Wahrscheinlich sogar menschenverachtend und rassistisch. Die einstmals liberale Zeitung und ihre Chefredaktion hielten dem Druck nicht stand. Statt ihren Autor für den doch absichtlich bestellten Artikel zu verteidigen, kroch sie in Sack und Asche gen Canossa, nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei mal hinter einander, angepeitscht zuletzt von ihrer eigenen Friedenspreiskolumnistin, der Tugendrichterin Carolin Emke, einem Wohlfahrtsausschuss auf zwei Beinen. Das Blatt entschuldigte sich bei allen für den Verstoß gegen das neue Weltgewissen. Ich möchte nicht in der Haut des Kritikerkollegen stecken, weiß ich doch aus eigener Erfahrung beim ZDF, wie das ist, wenn einem der Arbeitgeber in den Rücken fällt, wenn man die Gefühle des Mainstreams verletzt. Neue Normalität!
IV.
Viertes Beispiel: Föderalismus ist von Beginn an ein Grundpfeiler der politischen Freiheit in Deutschland. Früher hätte ein bayerischer Ministerpräsident eher die Unabhängigkeit des Freistaats erklärt, als mehr Berliner Zentralismus gefordert. Söder bringt es fertig. Und sei es auch nur deshalb, weil er sich schon als neuen Reichs-, pardon, Bundeskanzler sieht. In Zeichen von Corona splittert das Fundament der Demokratie. Und niemand rebelliert gegen Söder. Neue Normalität auch dies.