Tichys Einblick
Zeitenwandel

Die zweite industrielle Revolution stellt alles in Frage – und die Demokratie auf die Probe

Es ist romantische Sehnsucht zu glauben, Klassenkampf und Nationalismus seien wirkungsvolle Antworten auf die zweite industrielle Revolution wie auf die erste. Die zweite fegt die herrschende Ordnung hinweg, die Nationalstaaten wie die vertraute Arbeitswelt.

Was haben Trump und Macron gemeinsam? Kaum etwas. Bis auf die Kleinigkeit, dass sie ihre Wahlsiege derselben Ursache verdanken, dem Ende der alten Bipolarität demokratischer Gesellschaften. „Rechts“ und „Links“ bilden die neue Tektonik der westlichen Welt nicht mehr annähernd ab. Die alten Parteien sind unfähig, den revolutionären Wandel der digitalisierten Welt zu gestalten, weil sie falsch gepolt sind.

I.

Der Riss geht quer durch beide Lager. Sahra Wagenknecht will in der EU fast alles ändern, Gysi fast alles bewahren. Marine le Pens „Rechtspopulisten“ sind ganz nah bei den „Linksradikalen“, weil Globalisierungsgegner gegen den global ausgerichteten Kapitalismus rebellieren müssen. Wie schon die erste industrielle Revolution schafft auch die gegenwärtig zweite ungeheuere Ungleichheit. Eine Antwort auf die erste industrielle Revolution waren Klassenkampf und Nationalstaaten. Aber es ist nichts als romantische Sehnsucht, zu glauben, Klassenkampf und Nationalismus seien auch wirkungsvolle Antworten auf die zweite industrielle Revolution. Sie wird die herrschende Ordnung hinwegfegen, die Nationalstaaten ebenso wie die vertraute Arbeitswelt.

II.

Ob Trump oder Macron, May oder Merkel: sie alle reden, als könnten sie die Entwicklung steuern. Nur die Methoden ihrer Selbsttäuschung sind verschieden.
Die einen fordern Sozialpolitik, Umverteilung, Abschottung, Schutzzäune etc. Es sind Antworten von gestern. Andere, zu ihnen zählen Merkel (und auch eine Hillary Clinton) behaupten: Nur wir blicken durch. Sie definieren die Revolution als Elitenprojekt. In Wahrheit reagiert Merkel nur, rast auf Sicht ins Ungewisse. Sie ist nicht nur ahnungslos, sondern streitet dies auch noch ab. Mit der Behauptung, es gebe objektives, alternativloses Expertenwissen, dogmatisiert sie eine Illusion und beschädigt außerdem noch die demokratische Substanz.

III.

Die Revolution lässt sich so weder gestalten noch aufhalten. Beide Lager täuschen die Regelbarkeit des Wandels vor, indem sie zum Beispiel glauben, Wachstum könne wie in der Vergangenheit alle Verwerfungen ausgleichen. Aber auch ein Macron hat keinen verlässlichen Masterplan in der Tasche, so wenig wie Trump oder irgendwer sonst. So schwanken die politischen Lager zwischen Pessimismus und haltlosen Illusionen. Die einen instrumentalisieren die unvermeidbaren Ängste, die der Wandel generiert, die anderen wollen den Bürgern die Ängste mit falschen Versprechen ausreden. Aber dazu fehlt ihnen das Wichtigste: Vertrauen.

IV.

Kein Land wird daran vorbei kommen, dass in Zukunft nicht mehr Arbeit das Leben der Menschen strukturiert. Die Umwälzungen werden so gut wie alle Lebensbereiche erfassen. Deshalb ist es völlig sinnlos, die nationale Wirtschaft von globalen Entwicklungen trennen zu wollen. Die Zukunft gewinnt niemand, der sich dem technologischen Wandel entgegenstellt. Die Globalisierung lässt sich allenfalls kurzfristig bremsen, aber nicht aufhalten.

V.

Zum Wesen der zweiten industriellen Revolution gehört die exponentielle Zunahme an Komplexität. Das bedeutet nicht nur, dass alles mit allem zusammenhängt. Komplexität ist ein anderes Wort für das, was wir Chaos nennen, weil wir seine Gesetzmäßigkeiten noch nicht erkennen. Wenn überhaupt, wird es uns dies nur mit Hilfe künstlicher Intelligenz gelingen. Das wiederum bedeutet: Niemand, gleich welche politische Weltanschauung er teilt, ist heute in der Lage, die Folgen seines Handelns zu berechnen. Es gibt keine Gewissheiten, sondern allenfalls Wahrscheinlichkeiten. Die naturwissenschaftlichen und technologischen Umwälzungen stellen die ökonomischen, sozialen und politischen Grundlagen von Gesellschaft in Frage.

VI.

Macron gewann als Gründer einer Bewegung, die keiner Partei mehr nahestehen will. Trump gewann gegen das Establishment, indem er die Republikanische Partei kaperte, von deren DNA er so wenig hat wie von der DNA der Demokraten. Aber das heißt noch lange nicht, dass beide den alten Parteien etwas wirklich Neues entgegenzusetzen hätten. Wenn Marie le Pen sagt, zur Wahl stünden Patrioten und Globalisierer, drückt sie etwas Richtiges falsch aus. Patriotismus steht nicht im Gegensatz zur Globalisierung. Vielmehr geht es darum, Gesellschaften fit zu machen für die Folgen der technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Wir wissen noch nicht, welche Staatsformen den technologisch-ökonomischen Bedingungen der Zukunft am besten entsprechen werden. Wahrscheinlich werden hochkomplexe Netzwerke die Antwort sein, nicht zentralistische Gebilde aus dem neunzehnten Jahrhundert. Geistige Öffnung ist angesagt. Aufgabe aller politischer Lager wäre es, die Bevölkerung mit den Bedingungen der künftigen Welt vertraut zu machen. Wenn sie das von Wahl zu Wahl hechelnd nicht schaffen, wird die Demokratie ebenso untergehen wie die alte Arbeitswelt. Der Wandel ist eine extreme Herausforderung, an dem die uns vertrauten Kräfte, scheitern, wenn sie sich nicht selbst wandeln.

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