Tichys Einblick
Ins dritte Coronajahr

Die Übersterblichkeit der Vernunft

Im nun gleich dritten Coronajahr greift der Irrsinn weiter um sich. Dagegen ist kein Vakzin in Sicht, nicht einmal zur Erprobung. Die Hysterie lässt die Deutschen taumeln wie eine fanatische Erlösungssekte am Vorabend des errechneten Jüngsten Gerichts.

Es gibt nichts zu feiern. Wir sind ja noch nicht einmal davon gekommen. Die Schlinge der „Maßnahmen“ zieht sich zu, hierzulande straffer als irgendwo sonst auf der Welt. Vor einem Jahr dachten wir, noch enttäuschender kann das neue Jahr nicht werden. Heute wiederholen wir das leere Ritual der guten Wünsche. Das übliche „Bleiben Sie gesund!“ bedeutet: „Lassen Sie sich nicht verrückt machen!“ Aber wir sind es längst. Nicht nur das Leben, selbst das Hoffen ist nachhaltig beschädigt.

I.

Der Sommer der falschen Versprechen und richtigen Versager war sehr kurz. Die Liste der abgenutzten Unworte des Jahres ist lang: Werkzeugkasten und rote Linien – die einen werden immer größer, die anderen immer dünner. Inzidenzen, PCR, FFP2 und 2Gplus, Hospitalisierungsrate, Kontaktbeschränkung, Infektionsdynamik: Noch immer wird uns das Virologen-Esperanto täglich auf allen Kanälen eingetrichtert. Und immer noch nach der Regel: Die schlechte Nachricht, das Worst-Case-Szenario zuerst. Der Bürger ist herabgesunken zum Virusträger, zum Volksgefährder, zum statistischen Material der Modellierer, zum Befehlsempfänger eines Hühnerhaufens. Noch immer ist die einzige Wissenschaft, die zählt, keine Wissenschaft, sondern eine Menetekelschleuder Ahnungsloser. Wir sollen glauben, das Christkind ist nur für Geimpfte. Wobei selbst ein zweifach Geimpfter kein Geimpfter mehr ist. Die so vehement entfachte Boosterei entpuppt sich als Psychoterror der Gouvernanten gegen die infantilisierte Bevölkerung. Nach stundenlangem Schlange stehen in Eiseskälte, werden auch die dreifach Gestochenen mit totalitären Maßnahmen überzogen. Es sollen alle leiden, denn es ist angeblich Krieg. Was wäre das denn für ein Krieg, in dem nicht alle leiden müssten. Die Deutschen sind vor allem wieder einmal auf Kriegsfuß mit der Freiheit.

II.

Im nun gleich dritten Coronajahr greift der Irrsinn weiter um sich. Dagegen ist kein Vakzin in Sicht, nicht einmal zur Erprobung. Die Hysterie lässt die Deutschen taumeln wie eine fanatische Erlösungssekte am Vorabend des errechneten Jüngsten Gerichts. Die schiere Panik zerstört Existenzen, Psychen, Familien, Freundschaften, am Ende das ganze Land. Die Bevölkerung lässt sich ins Bockshorn jagen, immer und immer wieder. Ein Ende ist nicht vorgesehen. Es widerspräche ja auch der Logik des pandemisch-politischen Komplexes. Die biedere Maxime „Achtsamkeit“ lenkt vom tiefen Dilemma ab: Am Ende werden wir uns zu Tode schützen aus Angst vor dem Tod. Wir sind die größte Sekte der Welt. Eine Selbstmordsekte.

III.

Die Gesellschaft als Patientenkollektiv. Diesen Befund bestätigt Professor Lauterbachs Karriere. Er ist der „beliebteste“ Politiker nach Merkel, die keine Politikerin mehr ist. Die nölende Kassandra als Superstar. Nun in inkompatibler Ämterhäufung als Exekutiv-Prophet. Die Deutschen sind das einzige Volk, das einen Quälgeist ins Herz schließt. Der Irre als Irrenhaus-Direktor ist nun nicht mehr nur ein Topos der Literatur (Dürrenmatt: Die Physiker), sondern der Realität. Gegen einen irren Irrenhausdirektor gibt es für die Insassen kein Mittel. Die Mehrheit der im Wortsinn Verrückten legt fest, dass die Minderheit der Normalen die Verrückten sind. Dieses Land hat kein Gesundheitssystem, es ist ein Krankheitssystem. Krank ist das neue gesund. Die Übersterblichkeit der Vernunft ist nicht zu leugnen.

IV.

Ach so, beinahe hätte ich es vergessen. Es sei, wird behauptet, in diesem Annus horribilis eine Ära zu Ende gegangen. Es geht in diesem Land aber nie etwas zu Ende. Nur der Ikarus aus Oche ist zu nah an die Sonne geraten. Nun schwingt ein geschmeidiger Winkeladvokat sich zum Tiefflug auf. Seine Sätze hinterlassen den Abdruck eines Weichtiers im Wüstensand. Dass den Jahren des asymmetrischen Wegdämmerns dieser Republik Traumtänzerei folgt statt Erwachen, war zu befürchten. Nur soviel lässt sich feststellen: Der Neue schweigt anders, leiser, schmallippiger, einsilbiger. Das Nichtssagen des Nichtssagenden: die Bescheidwisser erklären es bereits zur neuen Staatskunst. Wir sehen in seinem Gesicht das gefrorene Lächeln einer Sphinx (laut Thomas Mann ein „apokalyptisches Tier“). Vermutlich ist er sich selbst das größte Rätsel.

V.

Gute Besserung!

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