Berlin trägt das Prädikat „Hauptstadt“ in preußisch militärischer Manier. Der Titel als Rang. Die anderen Städte sollen parieren. Klaglos akzeptieren, wie das knapper werdende Geld nach Berlin umverteilt wird. Auch in der Kultur. Zum Selbstverständnis der Hauptstadt zählt: Wer Unter den Linden etwas fahren lässt, produziert Hauptstadtkultur, weil er es Unter den Linden fahren lässt.
Das freilich ist komisch in einem Land, dessen größte Geister stets aus Provinzstädten heraus Weltkultur schufen – Goethe in Weimar, Bach in Orten wie Koethen, Dürer in Nürnberg, Kant in Königsberg. Wer von Berliner Kultur spricht, denkt weniger an Philharmoniker oder Museumsinsel als an die weltberühmte Leitkultur dieser Stadt. Den Grad an Zivilisiertheit kann der BerlinBewunderer nicht meinen.
Denn in Berlin wird Stillosigkeit zu Stil erklärt, Schäbigkeit für Lockerheit gehalten, Größenwahn mit Überlegenheit verwechselt, Gleichgültigkeit mit Toleranz, Kleinkariertheit mit Prinzipientreue, Ungehobeltheit mit Schlagfertigkeit und Ruppigkeit mit Humor. Und das hochgerühmte ewige Unvollendetsein dieser Stadt ist nichts als vollendete Ignoranz gegenüber allen üblichen ästhetischen Maßstäben wie Sauberkeit (auch im Denken), Manieren, Ordnungssinn, Klarheit.
Es ist die schmutzigste Hauptstadt Europas. Das stört aber niemanden. Die Silvesterraketen verstopfen bis Heilige Drei Könige (unbekannt in Berlin) die Rinnsteine. Vielleicht schneit es ja. Dann amalgamiert der nicht geräumte Schnee mit Schmutz, bis alle Passanten ausgerutscht sind.
Die Berliner sind die am schlechtesten gekleideten Hauptstädter Europas, weil die Ignoranz gegenüber Form und Sinn geistige Unabhängigkeit und Überlegenheit signalisiert. Wer in Unterhemd und zerschlissener Jeans eine Staatsopernpremiere besuchen möchte, macht in Berlin nichts falsch. Ausgerechnet die Angst davor, als konventionell zu erscheinen, macht den Berliner vollkommen beliebig.
Der gemeine Berliner ist kein Hauptstädter, ja noch nicht einmal ein Berliner. Denn er verschanzt sich in seinem Kiez, kommt aus Charlottenburg oder Kreuzberg kaum heraus und vom Prenzelberg kaum herunter – auch wenn der Begriff „Berg“ ein ähnlicher Euphemismus ist wie das Wort Eleganz für den Sperrmülllook der angesagten Restaurants. Am innovativsten ist der Berliner tatsächlich dann, wenn er mitten in der Stadt Land spielt. Im Urban Gardening an allen Ecken und Enden ist Berlin Weltspitze. Es gibt nichts, was nicht wächst. Außer der besseren Einsicht.
Immer wieder werden den Profiteuren aller Länder Filetstücke überlassen. Wie die Stadt nach der Wende eine städtebauliche Jahrhundertchance versemmelt hat, ist unfassbar.
Vom Potsdamer Platz bis zum Bahnhofsviertel dominiert langweilige Investorenarchitektur. Die besten Architekten der Welt haben in Berlin (soweit es sich nicht um Bundesbauten oder Botschaften handelt) ihre schlechtesten Entwürfe realisiert – weil sie nicht anders durften, als Gebäude zu fabrizieren, die in Reih und Glied stehen wie ein Garderegiment. Und nichts hat Berlin gelernt.
Am Kulturforum soll künftig eine Art überdimensionierter Museums-Lagerschuppen zwischen der Philharmonie Hans Scharouns und der Nationalgalerie Mies van der Rohes das Ensemble verschandeln.
Wegen seiner Wurstigkeit kennt der Berliner auch keinen Stolz. Was wie Stolz aussieht, ist nur Überheblichkeit. Empffände er so etwas wie Stolz, würde der Berliner nicht das Brandenburger Tor, Symbol des ganzen Landes, zur Eventkulisse profanisieren und die dazugehörige historische Aufmarschallee nahezu ganzjährig zur Partymeile.
Überhaupt ist die Behinderung des öffentlichen Verkehrs die einzige Aktivität der Stadtverwaltung, von der der Bürger präzise Kenntnis erhält. Aber auch die eiserne Gelassenheit der Bevölkerung gegenüber permanenter Belästigung durch fahrendes Volk in den öffentlichen Verkehrsmitteln zählt zum Lebensstil der deutschen Hauptstadt.
„Is mir egal“ wurde zur Hymne der Hauptstadt, weil der Refrain ins Schwarze trifft. Der Song des Rappers Kazim Akboga wurde – sehr passend – mittels eines Werbespots der Berliner Verkehrsbetriebe berühmt. Wenn es auch seltsam berührt, dass sich der Künstler kurz nach seinem Erfolg vor einen Zug geworfen hat.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 12/2017 von Tichys Einblick erschienen >>