Servus Tichy, die Schreihälse in Dresden sind nicht zu überhören. Ihr Echo dröhnt aus allen Talk-Shows. Der Kampf gegen Rechts wird zur Obsession. Er lenkt den Wähler ab von dem, was ihn wirklich bedroht. Die Methode scheint zu funktionieren: Schon gewinnt Merkel wieder Zustimmung. Sie darf sich bedanken. Und die Pegida-Proleten reiben sich die Hände vor Häme über die Überschätzung, die ihnen widerfährt. Wer und was sind sie? Ich weiß nur, was sie nicht sind: Sie sind weder die Speerspitze widerborstiger Ex-DDRler, die den lahmarschigen Wessies endlich zeigen, wie Demokratie wirklich geht, noch sind sie ein Beweis dafür, dass enthemmte Kleinbürger die Berliner Republik zerstören können wie einst die Weimarer Republik.
I.
Der meist ziemlich kluge Kommentator Thomas Schmid stellte nach der Nationalfeiertagssause in der WELT fest: „Im grellen Kontrast zwischen Festsaal und Straße wurde deutlich, dass es keine Brücke zwischen den beiden Milieus gibt.“ So weit hat er Recht. Aber er irrt, wenn er glaubt, zwischen den beiden Milieus befinde sich nur noch ein Abgrund, der das Land spalte zwischen Nationalisten und Verfassungspatrioten, hellen und dunklen Deutschen, Freund und Feind, Mainstream und Rechtspopulismus, Hetze und Harmonie. Der Versuch, miteinander zu reden, gilt allgemein als sinnlos. Hass und gegenseitige Verachtung schaukeln sich auf und hysterisieren das Land.
II.
Das hat negative Folgen für die Beweglichkeit unserer Demokratie. Sie ist insgesamt doch nicht vom Rand her in Gefahr, die Lähmung breitet sich vielmehr von der Mitte her aus. Und das kommt so: Mit dem Verweis auf Rechts wird Kritik – die Voraussetzung von Demokratie – diskreditiert. Es ist aber doch noch lange nicht jeder ein fremdenfeindlicher Nationalist, der die Wechselwirkungen zwischen Islam und Islamismus und die Folgen islamischer Einwanderung auf die offene Gesellschaft thematisiert haben möchte. Es zählt auch nicht jeder zur Lügenpresse-Fraktion, der dem Konformismus der Leitmedien nichts abgewinnen kann. Schon die Verwendung des Ausdrucks „Mainstream“ gilt ja inzwischen als anrüchig.
Nehmen wir als weiteres Exempel den einfachen deutschen Hauptsatz: Merkel muss weg. Die Leute in den Festsälen und in den meisten Redaktionsstuben wollen in ihm pure Hetze erkennen. Sie argumentieren kurz: Man könne die komplexen Probleme dieses Landes nicht reduzieren auf die Figur der Kanzlerin. Wer fordere, dass jemand aus dem Amt „entfernt“ werde, nähere sich der unmenschlichen Sprache der Nazis an. Wer Merkel weg haben wolle, sei ein geistiger Brandstifter, der das Geschäft von Pegida/AfD betreibe. So schlicht, so falsch.
III.
Respekt für die Repräsentanten des Staates fordern neuerdings besonders gern Linke wie der Justizminister und Sonntagsprediger der staatstragenden Presse. Sind sie in ihren Ämtern senil geworden, dass sie sich gar nicht mehr an die Studentenrevolte erinnern wollen? Respekt vor Amtspersonen war nicht gerade das, woran die aufmüpfigen Studenten litten, und es ist auch heute das Letzte, was diese Demokratie zu ihrer Genesung braucht. Respektlosigkeit gegenüber Regierungen, Religionen, Autoritäten aller Art ist nach wie vor eine demokratische Tugend. Auch wenn die Deutschen dafür nicht berühmt sind.
Zugegeben, man muss die Kanzlerin nicht als „Volksverräterin“ schmähen, um ihre Leistung zum Wohle des Deutschen Volkes für bescheiden zu halten. Wenn der eben zitierte Großpublizist und Ex-Straßenkämpfer Thomas Schmid aber das „Merkel-muss-weg-Milieu“ mit dem vor einer Potsdamer Moschee abgelegten Schweinekopf in Verbindung bringt, irrt er gewaltig. Mehr noch: Er denunziert alle Merkelgegner als Gegner einer diskursfähigen Demokratie. Das ist nicht bloß falsch, sondern fatal.
IV.
Einfach formuliert: Die AfM (Alternative für Merkel) ist weitaus größer als die AfD. Wer die gegenwärtige Regierungschefin für ein Verhängnis hält, hat mit Pegida und Petry noch lange nichts am Hut. Es gibt zwischen den Apologeten der Merkel-Regierung und den AfD-Anhängern ein drittes Milieu. Es wird von den etablierten Parteien (zumal außerhalb Bayerns, wo Seehofer bellt, nur nie beißt) so wenig repräsentiert wie von der AfD. Dieses wachsende, bürgerliche, zwischen liberal und konservativ schillernde Milieu, ist fast so etwas wie die dunkle Materie im deutschen Kosmos. Unsichtbar und doch vorhanden. Viele dieser Bürger (ein entwertetes Wort – sind doch jetzt alle nur noch Menschen) leihen ihre Stimme der AfD, schweigend und mit flauem Gefühl oder aus Wut, die wenigsten aus Überzeugung. Bei weitem aber nicht alle tun es. Kein Meinungsforscher kann uns sagen, wie viele ehemalige Wähler der CDU, SPD, auch der Grünen, nicht AfD, sondern gar nicht mehr gewählt haben. Die Abnahme der Nichtwähler wird zwar der AfD als Erfolg angerechnet. Aber es geht nicht nur um die Summe viel umfangreicherer, komplexerer Wählerwanderungen. Das dritte Milieu – die dunkle Materie – wächst, fühlt sich politisch heimatlos und sprachlos. Der AfD fehlen Persönlichkeiten aus den akzeptierten Eliten, mit dem sich liberal-konservative Nichtwähler identifizieren könnten. Die Sprache dieser Partei stößt ebenso ab wie ihr rechter Nationalismus. Es stößt aber auch Merkels urdeutsche Gesinnungsethik ab. Ist das etwa kein Nationalismus? Die Kanzlerin hat Europa mehr geschadet als das völkische Geschwätz der Rechten.
V.
Die AfM ist eine virtuelle Partei. Einer ihrer virtuellen Köpfe könnte Wolfgang Bosbach heißen, der nach langen Jahren für die CDU im Bundestag nicht wieder kandidiert. Hier nur wenige Zitate aus „Endspurt“, seinem neuen Gesprächsbuch (mit Hugo Müller-Vogg). Sie machen deutlich, woran die deutsche Demokratie heute mehr leidet als an Pegida. Und was Bosbach sagt, gilt nicht bloß in der CDU, sondern auch in Kirchen, Fernsehanstalten, Wirtschaftsverbänden. Nicht die Schreihälse sind das größte Problem, sondern die Duckmäuser. „Jede politische Haltung, jede Äußerung, die von der Regierungslinie abweicht, wird heute sofort als Anti-Merkel-Kurs und damit als Nachweis der Gegnerschaft zur Kanzlerin dokumentiert (…) Allein der Wunsch, dass in der Union über strittige Themen lebendig diskutiert wird, gilt heutzutage schon als Angriff auf die eigene Parteivorsitzende (…) So ändern sich die Zeiten. Früher warst du Rebell, wenn du eine revolutionäre Bewegung angeführt hast. Heute bist du ja schon Rebell, wenn du bei deiner Meinung bleibst und wenn man nicht kritiklos jede politische Kursänderung mitmacht, (…) das gilt anno 2006 als unmodern oder – wenn man viel Pech hat – als reaktionär.“ Bosbach sagt, er wolle nicht auf Dauer die Kuh sein, die quer im Stall stehe. Was für ein Offenbarungseid! Ein frei gewählter Abgeordneter fühlt sich als Kuh in einem Stall.
Man darf und kann gegen Merkel und die AfD zugleich sein. Demokratie bedeutet nicht, einer seit zehn Jahren nach Gutsherrenart regierenden Person selbst zu überlassen, ob sie Kanzlerin bleiben möchte oder nicht.
PS.
Ich kann übrigens nicht übersehen, was Frau Merkel und Frau Petry gemeinsam haben. So wenig, wie ich vergesse, dass am 3. Oktober 1990 auch das Ende der Bonner Republik eingeleitet worden ist. Die beiden Damen sind auf sehr unterschiedliche Weise in der DDR sozialisiert worden. Darf ich das hier schreiben, Tichy, dass ich Politikern misstraue, die ihr unverarbeitetes Diktatur-Trauma an dem abreagieren, was von der alten (Bonner) Bundesrepublik noch übrig geblieben ist?