Tichys Einblick
Misstrauen gegen Demokratie

Die deutsche Neurose

Zehntausende Hysteriker tun heute in Berlin so, als seien sie Historiker. Ihr Motto: Nie wieder. Es ist ein sicheres Symptom: Die Deutschen sind eine neurotische Nation.

Zehntausende Hysteriker tun heute in Berlin so, als seien sie Historiker. Ihr Motto: Nie wieder. Es ist ein sicheres Symptom: Die Deutschen sind eine neurotische Nation.

I.

Neurosen sind unverarbeitete Ängste. Sie verdankt dieses Volk seiner Geschichte. In nur siebzig Jahren nach der Gründung des Nationalstaats ging zweimal alles gründlich schief. Zwei verlorene Weltkriege, ökonomische und moralische Katastrophen. Als das Land danach kein Nationalstaat mehr war, ging fast alles gut. Leider nur im Westen, was erklärt, dass im Osten der Nationalstaat mehr Leuten noch immer als Ideal erscheint.

II.

Mit ihren Ängsten gehen die Deutschen unterschiedlich um. Die einen haben nicht vergessen, weshalb es ihnen in der Bonner Republik besser ging, und träumen vergeblich von einer Wiederkehr der Wunderjahre. Die anderen glauben, sie müssten nur den nationalen deutschen Sonderzug wieder aufs Gleis stellen. Davon halluzinieren nicht nur die „Neurechten“, sondern auch die Grünen. Beide sind auf dem Holzweg. Und das Volk leidet an Bewusstseinsspaltung. Aus ihr erwächst der Demokratie tatsächlich Gefahr.

III.

Typisch für die neurotischen Deutschen ist der Verfassungsschutz, den es so in keiner anderen westlichen Demokratie gibt, und der sich überwiegend gegen die eigene Bevölkerung richtet. Das Misstrauen der Deutschen gegen die eigene Demokratie schränkt den demokratischen Freiraum empfindlich ein. Parteien zu verbieten, ist grundsätzlich eine abwegige, also neurotische Idee und der Demokratie wesensfremd.

IV.

Entgegen der eigenen Erfahrung sehnen sich die Deutschen noch immer nach einer starken Führung. Auch das ist neurotisch. Demokratie ist prinzipiell Gewaltenteilung, nicht Durchregieren. Demokratie bedeutet Machtwechsel, nicht viermal dieselbe Kanzlerin wählen, obwohl sie erkennbar so vieles verpfuscht. CDU und CSU können sich erst langsam aus ihrem Schatten lösen, weshalb sie als Oppositionsparteien lange völlig ausfielen und erst allmählich womöglich wieder auf die Beine kommen. Kanzler Scholz hockt derweilen weiter in Merkels Schatten.

V.

Führung ist nicht das, was eine Demokratie als erstes braucht, sondern lebendige Teilhabe aller. Aus-einander-setzen statt Unterhaken. Demokratie ist das Vortasten in eine ungewisse Zukunft. Die grün/linken Neurotiker tasten sich nicht voran, sondern wissen rücksichtslos alles besser. Damit verletzen sie das Sicherheitsbedürfnis der anderen. Auch die Grünen sind unfähig, sich von der Vergangenheit zu lösen.

VI.

Gut regieren heißt heute nicht zu wissen, wo es lang geht. An diesem Anspruch, dieser Hybris, wird jeder Kanzler scheitern. Die Regierungen der Nationalstaaten haben in der Welt von heute gar nicht mehr die Möglichkeit, nationale Sonderwege durchzuziehen. Auch das Klima pfeift auf das deutsche Wesen. Das zu bestreiten und in die Welt zu posaunen: Wer Führung bestellt, bekommt sie geliefert, macht sich zur Witzfigur und beweist schon damit seine Untauglichkeit für das Amt.

VII.

Es gibt weder ein Zurück zu Vater Staat noch ein Zurück zu Mutter Natur. In diesem illusorischen Streben zeigt sich rechts wie links noch immer die krude deutsche Mischung aus Romantik und Idealismus. Sie hat das Land schon zweimal auf einen fatalen Irrweg gebracht. Und ich sage gleich dazu: Die EU als monströser Übernationalstaat, zu der sie sich derzeit entwickelt, ist das Gegenteil einer Lösung.

VIII.

Das zentrale Problem ist also das Defizit an Demokratie. Daraus wächst die Unzufriedenheit, die wiederum die Parteien erodieren lässt, die, ob es einem gefällt oder nicht, der real existierenden Demokratie Struktur geben. Die Folge ist, dass Deutschland nicht halb so gut verwaltet und gestaltet wird, wie es möglich und nötig wäre.

IX.

Käme die AfD wirklich „an die Macht“, wie manche befürchten, wäre es höchst wahrscheinlich nicht der Untergang. Doch würde es mit Sicherheit schlechtes Regieren mit anderen Mitteln bedeuten und ebenso zum Scheitern verurteilt sein wie die Habecksche Transformation. Diejenigen, die glauben, die Dame an der Spitze der AfD (bei weitem nicht alle ihrer Wähler sind auch ihre Anhänger) könnte es besser als der Scholzomat, sind übrigens nicht konservativ. Es sind Jünger, die an ein rechtes Wunder glauben. Neurotisch sind sie auch.



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