Tichys Einblick
Auseinander, nicht miteinander

Der Kitt des Ministers – Zehn Thesen über zehn Thesen

Die Welt erlebt gerade die größte technologische Revolution, nichts wird bleiben wie es ist. Alles steht in Frage. Und wir haben keine Antwort. Noch nicht einmal in leichter Sprache.

Produziert Politik nur Überschriften, wird sie Propaganda. Politische Propaganda ist altmodisch. Also sagen wir dazu Entertainment. Aber nicht nur Politik ist längst zu Entertainment verkommen, Religionen, Kirchen und Medien auch.

I.

Thesen sind Behauptungen, die erst noch zu beweisen sind. Nur der Behaupter hält sie für unwiderlegbar. Seine Thesen sind in Wahrheit Dogmen.

II.

Der Deutsche liebt Thesen. Am liebsten schlägt er sie – symbolisch – an eine Kirchentür. Die Tür steht für Glauben statt Wissen. Der Thesenanschläger glaubt, mit seinen Dogmen die Kirchentür öffnen zu können. Dogmen sind aber keine Schlüssel, sondern Schlösser, denen die Schlüssel verloren gegangen sind.

III.

Insofern laden sie nicht ein, sondern sperren aus. Insofern ist zum Beispiel die These, Religion sei ein Kitt der deutschen Gesellschaft, ein Widerspruch in sich. Die Erfahrung erzählt das Gegenteil. Sie sind Keil – wie immer, wenn jemand religiöse Thesen anschlägt. Von Luthers Schisma bis zur Der-Islam-gehört-zu-Deutschland-These einer Regierung, der auch der Minister angehört.

IV.

Gehörte der Islam tatsächlich zu Deutschland, wäre er Kitt. Der Minister nennt die Moschee ausdrücklich neben Synagoge und Kirche. Da aber der Islam Ungläubige und Andersgläubige nicht als gleichwertig anerkennt, kann er nicht Kitt, sondern bloß Keil sein. Indem die christlichen Kirchen die islamische Intoleranz verteidigen, kitten auch sie nicht, sondern keilen. Nicht Religionen sind der Kitt, sondern die Übereinkunft darüber, dass Religion ihre politische Macht über Menschen in diesem Land verloren hat. Der Minister spricht zwar vom „Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln.“ Doch seine eigene Politik widerlegt diese Behauptung.

V.

95 Thesen liest in Deutschland kein Mensch mehr. Der Text wäre viel zu lang. 95 Thesen! Geht´s noch? Allenfalls zehn. Klingt nach zehn Geboten. Und man kann seine Finger benutzen, wenn es mit dem Kopf nicht klappt. Deshalb sind Thesen heute auch so kurz wie Schlagzeilen von Bild. Wir sind nicht Burka! Fünf Silben statt eines einzigen Gedankens. Eine Plattitüde, kein Argument. Da rennt einer eine offene Kirchentür ein und schlägt dabei trotzdem intellektuell der Länge nach hin. Wir-sind-nicht-Burka ist ungefähr so zutreffend wie: Wir sind nicht blöd.

VI.

Denn auch die nächste, mir an sich sympathische These des Innenministers erweist sich als Bullshit: Allgemeinbildung gehöre zur deutschen Leitkultur. „Dieses Bewusstsein prägt unser Land.“ Pfeifendeckel. Dieses Bewusstsein schmilzt wie ein Alpengletscher im Klimawandel. Allgemeinbildung wird in Deutschland systematisch entwertet. In den Schulen werden allenfalls noch nützliche „Kompetenzen“ vermittelt, statt Bildung als „Wert an sich“. Zu verantworten hat dies nicht zuletzt die Regierung des Thesenanschlägers. Deutschlands Leitkultur wird von zunehmender Bildungsferne zermürbt.

VII.

Dafür gibt es Beweise. Einen las ich kürzlich auf dieser Seite. Es ging um die „Leichtsprache“ von Staat und Parteien. Wir brauchen nicht Thesen über deutsche Leitkultur verbreiten, solange wir allenfalls Leichtkultur pflegen und das einzige unbestreitbar Deutsche systematisch beschädigen: Die deutsche Sprache. Es gibt nicht nur Fake-News, es gibt auch Fake-Bildung. Nähere Auskünfte erteilen die Konferenz der Kultusminister sowie ARD und ZDF. Meine These lautet: Wer seine Tür der Dummheit öffnet, sollte daran nichts befestigen. Schon gar keine Thesen. Den Niedergang von Bildung im „Kulturstaat“ Deutschland zu diskutieren, wäre bitter notwendig. Was der Minister treibt, ist Selbsthypnose.

VIII.

Bildung hat mit Disziplin, Sorgfalt, Selbstkritik, Wissensdurst, usw. zu tun. Was passiert, wenn ein durch und durch Ungebildeter, sich jeder Bildung verweigernder Mensch Präsident wird, ist gerade in den USA zu sehen. Witzigerweise nennen wir das Resultat „Lernkurve“. Trump lernt nur durch eigene Erfahrung. Andere lernen auch mittels Bildung. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Bildung bedeutet, sich die Erfahrung der Menschheit zunutze zu machen und dadurch Fehler zu vermeiden. Trump liest nicht, sondern hängt nur vor der Glotze. Er ist halt Amerikaner, kein Leitkultur-Deutscher.

IX.

Oder er sitzt vor der Kamera und unterzeichnet großformatig Dekrete, die nichts anderes sind als Thesen, also unbewiesene Behauptungen. Oder er versucht, die englische Sprache zu beschädigen. Darin ist er bisher überaus erfolgreich. Wenn Politik nur Thesen produziert, wird sie zu Propaganda. Politische Propaganda ist ein altmodischer Begriff. Wir sagen heute dazu Entertainment. Trump verwechselt Politik mit Entertainment. Aber auch hierzulande ist längst alles zu Entertainment verkommen. Dann zählen nur noch Marktanteile. Selbst bei dem, was hierzulande für Bildung gehalten wird. Das Abitur hat den weitaus größten Marktanteil. Die Abiturienten wissen immer weniger. Das ist des Pudels Kern. Zynisch ließe sich die These formulieren: Entertainment ist das, was die Gesellschaft zusammenhält. Auch die Thesen des Ministers über die deutsche Leitkultur sind eine Form von Entertainment. Deshalb kommen sie so gut an, selbst bei denen, bei denen sie nicht gut ankommen.

X.

Meine These: Wir brauchen nicht Thesen darüber, was unser Land zusammenhält. Wir sollten mehr darüber reden, was uns auseinandertreibt. So wie das nun in Frankreich vorbildlich der Fall ist. Endlich eine Wahl mit klaren Alternativen. Bei uns muss ein Kandidat Bart tragen, damit man ihn von der Gegenkandidatin noch unterscheiden kann. Deutsche Leitkultur ist offenbar, über Thesen zu debattieren, statt über die tatsächlichen Herausforderungen. Meine These: Schwafeln wir nicht über den Kitt von gestern! Die Welt erlebt gerade die größte technologische Revolution, nichts wird bleiben wie es ist. Alles steht in Frage. Und wir haben keine Antwort. Noch nicht einmal eine These.

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