Kaum hat der Münchner Ex-SPD-OB Ude sein kritisches Buch zur Integrationspolitik veröffentlicht, wirft auch der grüne OB Tübingens, Boris Palmer, seine Streitschrift in den Wahlkampf: „Wir können nicht allen helfen.“ Dass er dafür die Titel „Grüner Sarrazin“ oder „Trump der Grünen“ angeklebt bekommt, versteht sich von selbst.
Kein Zufall ist es, dass Kommunalpolitiker der herrschenden Gesinnungsethik am deutlichsten widersprechen. Sie müssen ja Flüchtlingsunterkünfte organisieren, mit den Folgen der gescheiterten Integration fertig werden – allein gelassen von den Wir-schaffen-das-Moralisten in Berlin.
I.
Die Buchvorstellung am Donnerstag in Berlin war ein Lehrstück in Gestalt einer Farce. Dafür sorgte Frau Julia Klöckner, CDU. Wer auch immer darauf gekommen ist, sie Palmers Buch vorstellen zu lassen – gleicher Jahrgang (1972), gleiche Liebe zu Schwarz-Grün – das Ergebnis war, dass Frau Klöckner gefühlt etwa acht mal so viel redete wie Herr Palmer. Hätte sie nicht die unverhoffte Gelegenheit dazu nutzen wollen, so ausführlich wie schwammig zu belegen, wo sie selbst steht (hinter ihrer Kanzlerin – wenn man nur wüsste, wo die steht), hätte sie alles in einem einzigen Satz untergebracht. Ungefähr so: Seht her, jetzt ist auch der vernünftige, liberale Herr Palmer von den Grünen endlich auf Kanzlerinnenkurs.
II.
Das ist er natürlich nicht. Sein Buch ist eine einzige Beschwerde gegen den Verfall der Streitkultur, gegen die „Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung eines nicht kleinen Teils der Gesellschaft.“ Ein Buch gegen die „Erhebung einer Sachfrage zur Gesinnungsfrage“. Es bestehe kein Bedarf, immer neue Nazis zu ernennen. Dafür macht der Grüne die Kanzlerin mitverantwortlich. Sie habe die Flüchtlingsfrage mit ihrem moralischen Imperativ aufgeladen und damit selbst die Sortierung der Gesellschaft in gut und schlecht betrieben. Merkels Politik hat die Gesellschaft gespalten.
Da muss Frau Klöckner widersprechen. Sie habe ihre Kanzlerin so nicht wahrgenommen. Beste Frage an Frau Klöckner: Gibt es einen Boris Palmer in den Unionsparteien? Sie braucht 10 Sätze um die Frage nicht zu beantworten. Jeder weiß: Es gibt ihn nicht.
III.
Natürlich – sie ist ja nicht blöd – mäkelt Frau Klöckner ein wenig herum. Am Titel des Buchs etwa. Der ist ihr zu wenig positiv, spreche doch zu sehr vom Misslingen statt vom Gelingen. „Es kommen ja gar nicht alle.“ Wenn sie, die CDU-Nachwuchskraft auf Bewährung – schon den lieben Boris kritisiert, dann von links.
Die Klöcknerin von Notre Dame beweist, dass Merkel und ihr Hofstaat immer noch nicht kapiert haben. Palmer spricht zwar nicht von Obergrenzen, aber sehr wohl von „Belastungsgrenzen“ der Gesellschaft. Klöckner dagegen: Die „Leitkultur“ müsse „auch eine Klammer sein“ zwischen denen, die schon länger da sind und denen, die länger da sein werden, weil wir sie nicht mehr loswerden. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Leitkultur nicht als Fundament einer Gesellschaft, sondern als Flickzeug, wenn die Luft aus dem Reifen weicht, den die Regierung selbst perforiert hat. Palmer: Wenn wir überhaupt abschieben, dann schieben wir die Falschen ab. Die Verhaltensauffälligen, Kriminellen, Unwilligen ohne Papiere dürfen bleiben.
IV.
Unter dem Strich hat Frau Klöckner Herrn Palmer lieb. Der Grund dafür liegen auf der Hand. Mit so einem Grünen wäre das Regieren die wahre Freude. Glaubt sie. Wäre es ganz sicher nicht. Denn Palmer hätte entweder nichts zu melden oder er hätte sich widersetzt.
Erst einmal hörte er der Vorstellung seines eigenen Buchs eher zu, als dass er es hätte verteidigen müssen. Auch die müde Journalistenmeute wollte keinen Disput zur Sache, sieht man von den langweiligsten aller Fragen ab: Wer hat Sie nun nicht mehr lieb? Wie weh tut das? Weshalb sind Sie überhaupt noch bei den Grünen? (Wegen der Ökologie. Ach so.)
Immerhin hat Frau Klöckner das Buch tatsächlich gelesen. Das ist insofern ungewöhnlich, als im Internet seit Tagen Verrisse von Sachkundigen zu lesen sind, die es noch gar nicht gelesen haben können.
Palmer hatte es einst mit einem Kurztext im Netz zu einigem Aufsehen gebracht: „Wir schaffen es nicht“, hatte er getwittert. Der anwachsende Shitstorm war ihm Anlass, das Buch zu schreiben. Der beste Witz in Palmers Buch ist deshalb der letzte Satz. Er lautet: „Wir schaffen es.“ Er wird ihm ebenso aus dem Zusammenhang gerissen werden wie das vermeintliche Gegenteil zuvor. Palmer konditioniert die Übernahme der Merkelschen Floskel: Wir schaffen das, WENN wir uns den „schmerzhaften und dennoch unabweisbaren Erkenntnissen nicht verweigern“. Von denen ist 250 lesenswerte Seiten lang die Rede gewesen.
„Das Buch taugt nicht zum Skandal“ – behauptet Frau Klöckner. Der Skandal besteht darin, dass ein grüner Pragmatiker im froschgrünen Hemd kommen muss, um der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden das kleine Einmaleins pragmatischer Politik zu erklären. Sie hat das Buch gelesen. Schon möglich. Verstehen kann sie es nicht.
Wolfgang Herles ist Schriftsteller und (TV-) Journalist, er schrieb mehrere Romane und zahlreiche politische Sachbücher, zuletzt Die Gefallsüchtigen in dem er das Quotendiktat der öffentlich-rechtlichen Medien und den Populismus der Politik attackiert. Sie erhalten es in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop