Der berühmteste Deutsche ist tot. Und mit ihm das Trugbild von einem besseren Land. Er symbolisierte einen erloschenen Traum: die unerträgliche Leichtigkeit einer Republik, die es nicht mehr gibt.
I.
Bezeichnenderweise kam Beckenbauers unsinnigster Satz in keinem Nachruf vor. Als er kurz nach dem Mauerfall als Trainer die Weltmeisterschaft gewonnen hatte, war auch er vom neuen Nationalrausch infiziert und sagte: Nun werde auf Jahre hinaus Deutschland (im Fußball) unbesiegbar sein. Hybris kommt vor dem Fall. Seit Jahren sinkt das Ansehen der Nationalmannschaft, und sie wurde zum Spiegel des Niedergangs der Republik. Nun markiert der Tod Beckenbauers das Ende einer schönen Illusion, die in der alten Bonner Republik immerhin einmal zum Greifen nahe schien.
II.
Die Widerwärtigkeit des selbstverschuldeten Abstiegs der Nation bekam Beckenbauer selbst zu spüren. Da holte er doch glatt das Sommermärchen nach Deutschland, ohne mit Transparency International zu kooperieren. Eine vergleichsweise lächerliche Bestechungssumme an einen FIFA-Funktionär kostete ihn sein Renommee und vermutlich auch seine Gesundheit. Es war freilich keine (juristisch folgenlose) Affäre Beckenbauer, sondern der Skandal eines an Moralismus erstickenden, von Correctness und Wokeness strangulierten Landes. Die einstige Leistungs- und Erfolgsgesellschaft verzichtet lieber in Edelmut auf Erfolg und heischt sich an, die Welt am deutschen Wesen zum Besseren zu transformieren. Diesen Weg illuminiert auch das betrübliche Ende der Lichtgestalt Beckenbauer.
III.
Mehr als jeder andere Deutsche stand er ja einmal für etwas ganz anderes. Beckenbauer glänzte nicht mit den sogenannten deutschen Tugenden. Ohne Blut, Schweiß und Tränen tänzelte er an die Spitze, wurde genau dafür bewundert. Ballbeherrschung statt Verbissenheit. Lockerheit statt Kampf. Überlegenheit durch Intelligenz und Körperbeherrschung. Offenbar sogar in der Lage, die Gesetze der Physik zu transzendieren und allen Schwierigkeiten locker aus dem Weg zu spazieren. War es nicht das, wovon die alte Bundesrepublik träumte? Sie hatte das Jammertal ihrer Geschichte verlassen, doch ohne es auf sonnigen Höhen auszuhalten. Die „heiteren“ Olympischen Spiele in München 1972 standen ebenfalls symbolisch dafür – nicht zufällig waren die Siebziger auch die besten Jahre des Fußballspielers Beckenbauer. In dieser Zeit hatte das Wirtschaftswunder den Zenit erreicht – und überschritten.
IV.
Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er auf’s Eis. Es ist kein Zufall, dass sich just da die grüne Bewegung zu formieren begann. Der Philosoph Odo Marquard brachte diesen Kipppunkt treffsicher auf den Punkt: „Als man sich in der Bundesrepublik vom schlechten Gewissen darüber, dass Ungehorsam und Aufstand gegenüber der nationalsozialistischen Diktatur in der Regel unterblieben war, nicht mehr durch die Mühen des Wiederaufbaus ablenken konnte, holte man diesen Ungehorsam und Aufstand nach: absurderweise jetzt – mit dem Feindbegriff des Vorhandenen (…) Offenbar braucht man das Gewissen nicht mehr selber zu haben, wenn man das Gewissen für andere wird.“ So vollzog sich der grundlegende Wandel „vom Gewissenhaben zum Gewissensein“. Was die Republik heute so beutelt, ist, dass die Vernunft auf der Strecke bleibt und die Aufstiegsgesellschaft zur Abstiegsgesellschaft deformiert, die sich selbst an der erfolgreichen Leichtfüßigkeit eines Beckenbauer nicht mehr einfach nur erfreuen wollte.
V.
Ein Kind im zerstörten München steigt durch nichts als Talent und eigene Leistung zum Idol auf. „Geht’s raus und spuids Fuaßboi!“ soll er seinem Team vor dem Endspiel in Rom mitgeben haben. So schlug er den gordischen Knoten entzwei, die Selbstfesselung der talentarmen Allesbedenker, die das Land überall sonst beherrschen. Das Glückskind, der Olympier. Er personifizierte die Verheißung, die die Bonner Republik einen historischen Wimpernschlag lang ahnen ließ. Auch sie wollte auf dem Feld der Weltpolitik wie ein Libero erscheinen, der keine Gegenspieler mehr hat. Exportweltmeister, verliebt ins Gelingen. Beckenbauer gab eine Vorstellung jener Freiheit, der diese Gesellschaft unter der Knute ihrer Mentalität stets misstraute. „Der Kaiser“ stand für dieses Land in seinem glücklichsten Moment mehr als alle seine Künstler, Unternehmer und Wissenschaftler. Beckenbauer war – mehr noch als Willy Brandt in der Politik – Repräsentant einer schönen Illusion. Ihr trauern wir nach.