Zivilisation ist mehr als Komfort plus Menschenfreundlichkeit. Sie umfasst nicht nur die sozialen und materiellen Lebensbedingungen, sondern ist darüber hinaus auch das Resultat einer geistigen Entwicklung. Mitten in Europa steht dieser Fortschritt in Frage. Erstaunt stellen wir fest, wie verdammt dünn der Firnis unserer Zivilisation ist.
I.
Die Frage, ob Putin die Welt schon immer zum Narren gehalten hat, oder eine allmähliche Deformation seiner Persönlichkeit in die Katastrophe geführt hat, mag später einmal Historiker interessieren. Gewiss handelt es sich zugleich um eine Deformation des politischen Denkens der politischen Klasse. Es sind Händler, nicht Politiker, die Putin auf den Leim gingen. Die Logik des globalen Kapitalismus erweist sich als Illusion. Was zählt, ist die Realität bestialischer Zerstörung.
II.
Dank Putin lernen wir gerade etwas über das Wesen der soeben noch hoch wirksamen, und für zivilisatorischen Fortschritt gehaltenen Entmilitarisierung des Denkens. Auf einen einzigen Satz gebracht: Die Strategie der Entspannungspolitik bestand darin, die Apokalypse zu beschwören, um damit eine Utopie als Realität zu verkaufen. Verkaufen: das Wort gilt hier im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Ergebnis: Wieder droht ein Krieg zu eskalieren.
III.
Niemand mehr macht Putin seine Beförderung in den Club der welthistorischen Monster streitig. Selbst, wenn er seinen Krieg sofort stoppte, hätte er den Platz unter all den unsterblichen Bösewichtern, Kaisern, Königen und Präsidenten, sicher. Putin ist darauf vielleicht stolz, oder er rechnet mit der Wankelmütigkeit des Weltgerichts. Als „Historiker“ kennt er sich da aus. Vielleicht denkt er ja nicht nur an Iwan den Schrecklichen, sondern auch an den Frankenkönig Karl. Der hatte sich, bevor er zum Kaiser gekrönt, zum Großen ernannt und heilig gesprochen wurde, einen finsteren Ruf als Sachsenschlächter erworben. Seine Eroberungskriege gegen die Nachbarn waren an Brutalität und Menschenverachtung nicht zu überbieten gewesen. Aber erstens blieb Karl Sieger, zweitens brachte er nicht nur Tod und Zerstörung, sondern den Eroberten auch einige zivilisatorische Errungenschaften, und drittens ist das verdammt lange her. Von Menschenrechten, von Humanismus und Aufklärung und von der Freiheit des Individuums war noch keine Rede. Die heute so heftig beschworenen europäischen Werte waren dem Vater Europas kein Begriff. Putin aber muss an den Maßstäben von heute beurteilt werden. Niemand kann das Rad der Geschichte zurückdrehen, nicht einmal in seinem eigenen Kopf.
IV.
Ob er die Ukraine nur zerstören oder auch besiegen wird, wissen wir nicht. Jedenfalls tanzt im Augenblick ganz Europa nach Putins Pfeife. Seine Truppen verheeren und entvölkern ganze Landstriche. Der Russe zerstört auch die wirtschaftliche Basis des eigenen Landes – und leider noch viel mehr. Er exportiert Mangel, verringert den Wohlstand der Völker fast überall auf der Welt. In Afrika werden Tausende an Hunger sterben, weil Putins Krieg Getreide und Dünger knapp werden lässt. Das ist die Logik der vernetzten Weltwirtschaft. Deshalb hat Russland im Grunde der ganzen Menschheit den Krieg erklärt. Gegen diesen Angriff genügt es nicht, die Ukraine zögerlich mit schweren Waffen zu beliefern.
V.
Putins blutiger Faschismus lenkt ab. Um die Lebensqualität auf der Welt zu schädigen, bedarf es keines Angriffskriegs. China etwa nutzt dazu andere Methoden. Auch in der No-Covid-Politik Chinas steckt ungeheueres Zerstörungspotential. Deutschland spekulierte selbst mit Wahnsinn dieser Sorte. No-Covid blockiert Häfen und sprengt Lieferketten. Das kostet zwar keine Menschenleben direkt, ist aber im Ergebnis eine zumindest in Kauf genommene sinnlose Vernichtung von Lebensgrundlagen. Die bevorstehende Weltwirtschaftskrise geht auch auf Chinas Konto. Ein total säkularisiertes, von eiskalter Machtlogik geprägtes Regime versinkt plötzlich in einem Sumpf von Irrationalität.
VI.
Xi und Putin, bei allen Unterschieden, verstehen sich vermutlich als Kinder der Aufklärung. Aufklärung war einmal das Primat der Ratio über die unbewussten Kräfte der Emotion. Heute wird Vernunft plötzlich wieder zum Sklaven vermeintlicher Moral. Auch die Deutschen, die so stolz sind auf die Errungenschaften der europäischen Aufklärung, lassen sich zunehmend von Emotionen destabilisieren, hauptsächlich von Ängsten. Ihnen ist die dünne Schicht der Zivilisation, die uns schützt, nicht gewachsen.