Mutter Oberin fordert mehr Mut von den Deutschen. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, einem Kirchenblättchen, sagte sie: „Ich meine den Mut eines Menschen, der vorher die Dinge bis zum Ende durchdacht hat und sie dann durchhält.“ Es ist der Satz der Woche. Passend zur Wahl. Ja, denken wir die Dinge am Wahlsonntag endlich zu Ende!
I.
Wenn Merkel die Dinge so lange bis zum Ende durchdacht hat, bis sie das Denken eingestellt und ausgedacht hat, sind sie bekanntlich alternativlos. Sie hat zum Beispiel bis zum Ende gedacht, dass sie Kanzlerin bleiben will. Das gilt jetzt allgemein als alternativlos. Wenn es keine Alternative zur Kanzlerin gibt, ist die Veranstaltung, die in einer Woche stattfindet, allerdings sinnlos. Allerdings wird der Kanzler gar nicht gewählt. Ob es ARD und ZDF in ihrem Sendungswahn täglich suggerieren oder nicht. Zur Wahl steht nicht der Kanzler, sondern eine Institution, deren Bedeutung unter Merkels Regentschaft gegen Null gesunken ist. Die Wähler könnten das ändern.
II.
Der Bundestag ist Zentrum der repräsentativen Demokratie, und deshalb spiegelt er auch ihre Schwäche. Es ist die Schwäche des Souveräns, des Volks. Dem wahrscheinlich größten Teil der Wähler nämlich ist das Parlament gleichgültig. Er will nicht, dass dort gestritten wird. Er will, dass ordentlich regiert wird. Er sehnt sich nach Ordnung, Sicherheit und Stabilität und sieht in der in Weiterso-Kanzlerin die Erfüllung seiner Sehnsucht. Absurderweise wird Merkel als Schutzheilige vor den Zumutungen der Welt verehrt. Auch steigt die Angst davor, der deutsche Laden könnte auseinander fliegen. Das ist der andere Irrtum allzu vieler deutscher Wähler. Konsens ist Stabilität, glauben sie. Sie sehen in Merkel eine Konsensgarantie. Einigkeit lautet das erste Wort der deutschen Hymne. Einigkeit über alles. Es ist die erste und letzte Strophe des Lieds der Deutschen zugleich.
III.
Das Unbehagen über die Politik der Kanzlerin wächst zwar, aber die meisten deutschen Wähler trauen sich nicht, den Wechsel zu wählen. Lieber arrangieren sie sich damit, dass über ihre Köpfe hinweg regiert wird. Dies ist, in einem Satz zusammengefasst, das Dilemma der deutschen Demokratie. Die Deutschen fürchten sich vor dem Wandel, wählen jedoch absurderweise jene Kraft, die diesen Wandel zugelassen und betrieben hat. Das ist nicht zu Ende gedacht. Jede Gesellschaft hat die Politiker, die sie verdient.
IV.
Ein besserer Bundestag wäre ein Bundestag, in dem unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, wäre ein Parlament, das es der Kanzlerin weniger leicht macht, das Denken einzustellen, wenn sie glaubt, die Dinge seien bis zum Ende gedacht. Ein guter Bundestag wäre eine nie versiegende Quelle von Alternativen.
Wozu brauchen wir einen besseren Bundestag? Ganz aktuell: Nicht um der rauschhaften Selbstüberschätzung des Herrn Juncker zu applaudieren, sondern ihr entschieden zu widersprechen. Wer noch immer den Kardinalfehler der Europäischen Union – Erweiterung und Vertiefung zugleich – propagiert, hat nichts aus der kisenhaften Zuspitzung gelernt. Er muss, mit Verlaub, verrückt geworden sein.
Wer hat widersprochen? FDP, Linke, AfD. Spielt das Megathema Europa im Wahlkampf eine größere Rolle? Erst jetzt auf den letzten Drücker dank Junckers Wahnrede. Man muss ihm in dieser Hinsicht dankbar sein. Sonst gäbe es gar keinen Diskurs über Europas Zukunft. Es reichte bisher nicht einmal zum polyphonen Duett, sondern nur zum Unisono-Choral.
V.
Die beiden aus Sentimentalität „Volksparteien“ genannten Wahlvorschläge befinden sich in einem desaströsen Zustand. In der Woche, in der Heiner Geißler starb, erinnern wir uns schmerzhaft daran, dass es nicht immer so war. Geißler – wie auch Peter Glotz, sein Pendant in der SPD – verstanden ihre Parteien nicht zuerst als Wahlkampfmaschinen, sondern als Diskursraum. Als Anreger und Garanten gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Der Widerspruchsgeist Geißlers gegenüber Parteichef Kohl war notwendiger Teil dieses Verständnisses von innerparteilicher Demokratie.
Wer allein Merkel die Deformation der CDU vorwirft, verkennt ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten. Verkümmert ist die Partei durch Unterwerfung. Machtversessenheit, Denkfaulheit, Gestaltungsschwäche, Geschlossenheitswahn, Gefallsucht. Weit und breit ist niemand zu sehen, der Merkel Paroli bieten könnte oder wollte.
VI.
Denken wir die Dinge angesichts dieser Lage also zu Ende! Dann ist klar, was zu tun ist: Keine Stimme den „Volksparteien“! Linke, Liberale, AfD: Alle drei sind besser als Union und SPD. (Zur Partei des Merkel-Imitats Göring-Eckhardt fällt mir nichts mehr ein.) Gegen Linke, Liberale und AfD gibt es jeweils andere schwere Bedenken. Klar. Aber nur sie können im Bundestag die Konsenslethargie mildern und es der ewigen Kanzlerin schwerer machen, die Dinge auf ihre Art zu Ende zu denken. Den „Volksparteien“ muss klar gemacht werden, dass sie so, wie sie sind, keine Zukunft haben.
Wolfgang Herles ist Schriftsteller und (TV-) Journalist, er schrieb mehrere Romane und zahlreiche politische Sachbücher, zuletzt Die Gefallsüchtigen in dem er das Quotendiktat der öffentlich-rechtlichen Medien und den Populismus der Politik attackiert. Sie erhalten es in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop