Tichys Einblick
Erst sich selbst unterwerfen und dann andere

Das Böse und die Moral

Auch die vermeintlich Guten sind zu Bösem bereit, wenn man ihnen nur hinreichend weismacht, ihr Tun diene dem Guten. Der Zweck heiligt die Mittel. Das Böse beruft sich meist auf vermeintlich höhere, moralisch begründete Ziele.

Das Teuflische an der Moral ist, dass sie meist falschen Göttern dient. Aber es gibt ein Gegenmittel: Der Mensch müsste sich nur seines eigenen Verstands bedienen. Damit tut er sich schwer.

I.

Linke Psychologen führten 1971, zur Zeit der Studentenrevolte, das Stanford-Prison-Experiment durch. Die Absicht war politisch und moralisch einwandfrei: Es sollte das menschliche Verhalten in Gefangenschaft in der Absicht untersucht werden, die Unmenschlichkeit in echten Gefängnissen zu verurteilen. Das Experiment in einem dafür eigens errichteten Zellentrakt im Keller der Universität musste nach wenigen Tagen abgebrochen werden, weil es aus dem Ruder gelaufen war. Die als Wärter ausgelosten Studenten hatten ihre Rolle aus eigenem Antrieb übertrieben und ihre ebenfalls freiwilligen in Gefangenschaft gehaltenen Kommilitonen zu quälen und zu foltern begonnen.

Die Verwandlung der gewiss moralisch einwandfreien jungen Leute in Monster geschah ganz einfach. Sie trugen Uniform und hatten sich der Macht der Regeln und der Autorität der „Gefängnisdirektion“ blind unterworfen und in ihrer Rolle glänzen wollen. Die Fachwelt erregte sich darüber, wie „unwissenschaftlich“ und unethisch der Versuch durchgeführt worden sei. Doch bewies er auf beeindruckende Weise etwas, womit die akademischen Versuchsleiter gar nicht gerechnet hatten. Auch die vermeintlich Guten sind zu Bösem bereit, wenn man ihnen nur hinreichend weismacht, ihr Tun diene dem Guten. Echte Wärter, die einfach nur ihren Job machen, hätten sich korrekter verhalten. Der Zweck heiligt die Mittel. Das Böse beruft sich meist auf vermeintlich höhere, moralisch begründete Ziele.

II.

Zweitens lehrt dieses Experiment, dass Denken nicht delegiert werden kann, ob an einen Staat, eine Partei, eine Ideologie – auch nicht an die Vertreter einer guten Sache. Wo nicht mehr selbst gedacht, sondern nur noch befolgt wird, kann von Gewissen keine Rede mehr sein. Zu den psychologischen Kampfmitteln von Religionen gehört es zwar, den Gläubigen schlechtes Gewissen einzureden. Doch Gewissen kommt im Wortsinn nicht nur von Gewissheit, also von blindem Glauben an den Sinn von Geboten und Verboten, sondern auch von Wissen, nicht von Glauben. Das Cogito ergo sum von Descartes bedarf in diesem Zusammenhang einer entscheidenden Ergänzung: Ich denke, also bin ich ein Mensch. Letztlich kann es ohne Gedankenfreiheit keine Menschlichkeit geben.

Menschenverachtender Terror und Krieg gegen Un- und Andersgläubige ist nur möglich, weil sich Menschen ihrer Religion gedankenlos unterwerfen. Nur, wer sich selbst unterwirft, unterwirft andere. Die unterwürfigen Glaubensknechte gewöhnen sich so an ihre Unfreiheit, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Freiheit der anderen zu achten und respektieren. Ohne das eiserne Prinzip von Befehl und Gehorsam wäre das massenhafte Töten gar nicht möglich. Das ist beim Militär zur Verteidigung eines Landes nicht anders als in verbrecherischen Organisationen wie der Hamas.

III.

Verblüffen mag am Stanford-Prison-Experiment ebenfalls die Tatsache, dass intelligente Studenten, die sich als Teil einer vermeintlich antiautoritären Bewegung fühlen und sich Selbstverwirklichung auf die Fahne geschrieben haben, so rasch und bedenkenlos auf die Seite der Macht – und damit der Gewalt – überlaufen. Der Besitz der Macht pervertiert die Menschlichkeit. Heute hat die ehemals antiautoritäre Linke im Westen den Kulturkampf für sich entschieden. Deshalb herrscht sie autoritär, bekämpft die bürgerlichen Freiheiten nicht nur mit demokratischen Mitteln, sondern auch mit Denkverboten, Vorschriften und mit Diffamierung Andersdenkender.

Am infamsten ist die Unterstellung der Machthaber, alle anderen seien „rechts“. Der Freie wird von den Unfreien einem Kollektiv zugeteilt, das es gar nicht gibt. Weshalb? Weil der Unfreie sich den Menschen nur noch im Kollektiv vorstellen kann. Individualismus als Grundmaß der Freiheit wird zerstört, wenn sich kollektive Gesinnungen durchsetzen. Eigenständiges Denken ist die Voraussetzung von Skepsis, Kritikfähigkeit und geistiger Freiheit. Radikalisiert werden kann nur, wer zu eigenständigem Urteil nicht fähig ist – aus welchen Gründen auch immer.

IV.

Oft genug trägt das Böse das Kostüm der Moral. Ob die Gläubigen hinter der grünen Flagge des Klimawandels oder der grünen Flagge des Propheten her marschieren, ist vom Prinzip her kein großer Unterschied. Zwischen Gewalt gegen Gedanken, Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen verschieben sich dann die Grenzen. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit bleibt als erstes auf der Strecke, selbst wenn es angeblich um Menschenleben geht (siehe Corona-Maßnahmen). Denn Moral kommt immer anmaßend und alternativlos daher. Der Mensch muss sich bloß auf ein vermeintlich moralisches Ross schwingen, schon wird er zum apokalyptischen Reiter.


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