Der Heiligenschein und die Scheinheiligkeit werden gern verwechselt. Das Wort „Schein“ enthält zwei gegensätzliche Bedeutungen. Hier sind aktuelle Belege.
I.
Erst war ich berührt, dann befremdet. Da stand der islamische Friedenspreisträger Navid Kermani wie ein leibhaftiger Nathan der Weise am Pult der Paulskirche und bat zum Gebet. Die verdutzte Festgemeinde erhob sich, zur Demonstration genötigt. Das religiöse Ritual hatte hier nichts zu suchen. Es kam mir scheinheilig vor. Wurde da nicht von der Mitschuld der Religion am Zerfall der Zivilisation im Orient abgelenkt?
Wessen Gott auch immer – er wird nicht helfen, solange er in den verwirrten Köpfen von Menschen thront. Komischer Weise sprechen wir vom „Heiligen“ Krieg, aber nie von heiligem Frieden. Ohne irdische Vernunft gibt es keinen Himmel auf Erden. Was nützt es, mit Kermani bedauernd festzustellen, dass die islamische Kultur tot sei. Es ist der real existierende Islam, in dessen Namen unterdrückt und gemordet wird. Wer dem Islam Heiligkeit zubilligt, redet nicht anders als derjenige, der über den Marxismus behauptet, seine Dogmen seien durchaus richtig, bloß leider seine Funktionäre unfähig gewesen. Jetzt heißt es: Nicht mit dem Islam stimme etwas nicht, sondern nur mit den Hütern des Glaubens. Weit verbreitet ist diese Ansicht und tadellos korrekt. Mir ist sie dennoch suspekt.
II.
Wo Kermani Recht hat, hat er Recht. Die aggressivste Form des Islam ist in Saudi-Arabien zuhause. Scheinheilig hat sich der Westen mit dem auf Öl und Glaubensstrenge gebauten Regime verbündet. Die saudische Gesellschaft ist – im Namen des Propheten – die scheinheiligste der Welt. Weltmarktführer im Whiskeykonsum sind die Untertanen des Hüters der Heiligen Stätten. Sittenstreng – nur nicht in ihren Palästen. Religionsfreiheit? Undenkbar. Das Unrechtssystem der Glaubenswächter gilt auch in der Terrororganisation IS. Der wahre Gott ist auch in Saudi-Arabien das Geld. Neben der Kaaba steht das größte Einkaufszentrum der Welt. Aber wir verkaufen Waffen, und unser Außenminister beißt beim König auf Granit.
III.
Angela Merkel flog in die Türkei. Dagegen war Kaiser Heinrichs Bittgang nach Canossa eine feuchtfröhliche Spritztour. Damals hat der Kaiser mehr profitiert als der Papst. Merkel dagegen macht Deutschland abhängig von Erdogan. Sie hilft ihm im Wahlkampf. Denn der Potentat ist ihre letzte Hoffnung. Er soll stoppen, was sie erst nicht stoppen wollte und nun nicht mehr stoppen kann. Es geht ihr nicht mehr ums Flüchtlingswohl, sondern darum, dass andere die Drecksarbeit verrichten.
Scheinheilig ist dafür ein milder Ausdruck. Zum Dank darf die Scheindemokratie Türkei sogar wieder mit der Aufnahme in der Europäische Union hoffen. Die böte dann endgültig nur noch den Anschein eines vereinten Europa.
IV.
Ach, sprechen wir doch lieber von der schönsten Hauptsache der Welt. Die mächtigste Religion der deutschen Gegenwart hört auf den Namen Fußball. Dessen Bedeutung entspricht ungefähr der der Sonne im alten Ägypten. Weltmeisterschaften sind das, was für gewöhnliche Christen Weihnachten, Ostern und Pfingsten zugleich sind.
Zum festen Glauben gehört: Die deutschen Fußballfunktionäre sind gute Organisatoren, noch bessere Gastgeber und die besten Moralapostel. Deutschland: das weiße Schaf in der schwarzen FIFA-Herde. Anscheinend. Oder scheinbar? War das Sommermärchen doch kein himmlisches Wunder, sondern bloß irdischer Schein?
Es könnte allerdings sein, dass die Geschichte, die der Spiegel verbreitet, nur der Anschein eines Skandals ist. Man will sich so ein Attentat aufs deutsche Gemüt doch nicht kaputt recherchieren. Was als Großtat der Aufklärung daherkommt, ist vielleicht nur auflagengeile Sensationslust. Wer ist scheinheiliger? Der Deutsche Fußballbund oder der Spiegel? Dieses Match endet vermutlich mit einem klaren Unentschieden.
V.
Das Automobil. In der Rangliste deutscher Glaubensinhalte ist es dem Fußball dicht auf den Fersen. Wir glauben zwar nicht mehr unbedingt ans Christkind, aber doch an die Überlegenheit deutscher Ingenieurskunst. Und wenn das deutscheste aller Automobile und der beinahe volkseigene Volkswagenkonzern sich aufmachen, die Weltmarktführerschaft zu erringen, sind wir mit ganzem Herzen dabei. Zumal der Volkswagenkonzern unter grüner Flagge zum Heiligen Krieg aufrief. (Die Farbgleichheit mit dem Islam kann kein Zufall sein.)
Die Wolfsburger verbreiteten den Glauben, wer VW-Diesel fahre, rette die Umwelt. Die Konzernspitze hatte befohlen, den (amerikanischen) Markt zu erobern. „Wir schaffen das“, war die Parole. Zweifel nicht erlaubt. Einwände verboten. Unterwürfige Ingenieure verschwiegen die Realität, machten lieber den Schwindel mit. Heiligenscheine sind keine physikalische Größe. Sie existieren nur in der Vorstellung der Gläubigen und auf bildlichen Darstellungen (Propagandamaterial, Medien).
VI.
Hat Angela Merkel von VW gelernt?