Die Reden einer großen Kanzlerin müssten nicht groß sein. Sie wären allein durch die Größe der Rednerin bedeutend. Es käme kaum auf rhetorische und gedankliche Qualitäten an. Das Buch auf dem Tisch aber heißt „Angela Merkel: Die großen Reden“ (Droemer Verlag). Und Merkel ist keine große Kanzlerin. „Große“ Reden sind eine Behauptung, die Reden selbst betreffend.
I.
Es sind sechzehn, so viele wie Kanzlerjahre. Auf nicht mehr als 160 Druckseiten passen sie. Hat man nicht mehr Großes gefunden? Wie viele Reden sie wohl in diesen nicht enden wollenden Jahren gehalten hat? Nur eine pro Tag wären mehr als fünftausend. Vielleicht sind es ja wirklich nur die allergrößten: Also zum Beispiel gehalten beim Sommerempfang „30 Jahre Bundesfrauenministerium“ (2016) oder zur Verleihung des Medienpreises „M 100 Sanssouci Colloquium“ (2010). Natürlich sind auch Regierungserklärungen darunter wie die, die den kopflosen Ausstieg aus der Kernenergie verkündet hat (2011) oder ihre berüchtigte Fernsehansprache zum Ausbruch von Corona (2020).
II.
Kanzlerkandidatinnen dürfen nicht abschreiben. Kanzlerinnen lesen ab, was ihnen Stäbe von Regierungssprechern, Büroleiterinnen und Redenschreibern vorkauen. Und dennoch gelingt es dieser Autorin immer wieder sprachlich und intellektuell ganz bei sich zu bleiben. Es sind Momente, die den Leser erschaudern lassen, weil weder plumpe Gestik noch schludrige Modulation von der sprachlichen Dürftigkeit ablenken. Merkel zieht schriftlich blank. Auf wundersame Weise verrät sie damit mehr von ihrer Persönlichkeit, als wir jemals zu fragen wagten.
III.
Immer wieder muss sie betonen, was ihr an diesem Land am besten gefällt: Es hat sie Kanzlerin werden lassen. „Dass das möglich ist, auch das ist Deutschland. (…) Manchmal kann es offener sein und weiter gehen, als man es anfangs selbst für möglich hält. Und das ist großartig.“ So kann man es ganz ausdruckslos ausdrücken. Selbst die Trauerrede für Helmut Kohl“ (2017) schließt mit nichts anderem als mit ihr selbst: „Lieber Bundeskanzler Helmut Kohl, dass ich hier stehe, daran haben Sie entscheidenden Anteil.“ Gut, dass sie ihn noch einmal daran erinnert.
IV.
So entpuppt sich die Pflichtethikerin als Staatsegomanin. Überraschend oft bezieht sie ihre Entscheidungen auf nichts anderes als ihre eigene Befindlichkeit. Demokratie bedeutet in ihren Augen nicht Diskutieren, sondern Akzeptieren. „Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur offiziellen Mitteilungen, die wir immer auch in viele Sprachen übersetzen lassen.“ Die Herausgeberin Caroline Draeger ist Sinologin – vielleicht erklärt das ihre Affinität zu Merkels postmaoistischen Texten. „Es gehört zu einer offenen Demokratie“ (was bitte ist eine offene Demokratie – gibt es auch andere?), „dass wir die politischen Entscheidungen transparent machen und erläutern.“ Also von Oben nach Unten. Auf das, was andere für richtig halten, kommt es nicht an. Die Autorin verlangt bedingungslose Gefolgschaft für das, was sie – das ist der Trick, der demoskopisch immer noch funktioniert – für Wissenschaft hält. „Und deshalb halte ich es schon für geboten, dass Sie wissen, was mich leitet.“ Das ist der Kern ihrer „demokratischen“ Gesinnung. Ihre Reden verschleiern nichts. Wir haben nur nicht richtig zugehört. „Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.“ So hat vor Merkel noch niemand Demokratie definiert. Beriefen frühere Monarchen sich noch auf Gottes Gnaden, bezieht sie ihre Herrschaft auf ihr unfehlbares Wissen. Sie hält sich für gesalbt von Physik. So kann sie auch ganz sicher sein, dass man die Schwerkraft nicht außer Kraft setzen kann „und andere Fakten auch nicht“.
V.
Womit wir bei Covid wären. Merkel kann nicht irren, ja noch nicht einmal zweifeln. „Es geht darum, das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen. Und dabei müssen wir – das ist existentiell –, auf eines setzen: das öffentliche Leben, so weit es geht, herunterzufahren.“ Die Folgen kennen wir. Und noch immer korrespondiert maximale Freiheitsberaubung mit maximalem Staatsversagen und maximalen Kollateralschäden. In Merkels unnachahmlicher Diktion klingt das so: „Das Ziel heißt, nach Resultat zu rechnen; sonst entgleitet uns die Pandemie wieder und wieder.“ Spätestens jetzt weiß der Leser Bescheid.