Tichys Einblick
Helds Ausblick 14-2017

Was in Hamburg droht

Das Diktat der Gewalt, das die Gegner des G20-Gipfels zeitweise in der zweitgrößten deutschen Metropole durchsetzten, hat Bindungen der Stadtgesellschaft nachhaltig beschädigt.

A fire burns in the middle of town during an anti-G20 protest on July 7, 2017 in Hamburg

Getty Images

Die Hamburger Ereignisse sind erst zwei Wochen her und schon wird so getan, als seien sie in den üblichen Schemata kleinzuarbeiten. Sie sollen als eine Art Betriebsunfall erscheinen. Zwar wird von „entfesselter Gewalt“ gesprochen und von „kriminellen Banden“, aber die Heftigkeit der Sprache verdeckt die Machtfrage, die hier gestellt wurde. In Teilen der Stadt kam es faktisch zu einer Willkürherrschaft. Die Erfahrung, dass dies möglich war, liegt nun als Schatten über der Stadtgesellschaft und über dem Schutzvertrag, den der Staat ihr gegenüber zu erfüllen hat.

Hamburg ist verwundet und diese Wunde ist nicht dadurch zu heilen, dass man sich entschuldigt und Entschädigungen verspricht. Denn die Kräfte, die hier ganz unverhohlen zur Macht griffen, sind nach wie vor in der Stadt. Und sie sind auch sehr viel weiter verzweigt, als es die Rede von der „Gewaltszene“ suggeriert. Es gab eine Spitze der Gewalt, bei der kleine Gruppen durch die Stadt marodierten und bei ihren „bewaffneten Angriffen“ (der SPD-Innensenator Grote) auch den Tod von Menschen in Kauf nahmen. Und es gab eine Breite der Gewalt, die mit dem Ziel ausgeübt wurde, Hamburg zu blockieren und darüber zu bestimmen, wer sich wo bewegen darf. Diese Blockaden wurden auch nicht abgebrochen, als schon Brandwolken über der Stadt standen. Es war also eine zusammengesetzte Gewalt, die da zu einem Willkürregime führte.

Am Donnerstag, dem 6.Juli, 21.39 Uhr, schrieb Jakob Augstein, Mitbesitzer des Spiegel-Verlags und Verleger der Wochenzeitung Freitag auf Twitter folgenden Satz:

„Der Preis muss so in die Höhe getrieben werden, dass niemand eine solche Konferenz ausrichten will.“

Das war eine Aufforderung an die Protestierer. Sie sollten sich nicht mit einer Kundgebung ihres Anliegens zufriedengeben, sondern materielle Beschädigungen des Stadtlebens herbeiführen. Das besagt der Satz vom Preis, der „in die Höhe getrieben“ werden soll. Ein Preis, den zunächst die Bürger zahlen sollen, damit deren Not dazu führt, dass sich die Regierenden dem Willen der G20-Gegner beugen. Herr Augstein hat also, an diesem ersten Tag des Hamburger Gipfels, zu einer Erpressung aufgefordert. Die Bürger werden als Geisel in einem Machtkampf genommen.

So ist es dann auch gekommen. Es fand nicht einfach ein Duell zwischen G20-Anhängern und Gipfel-Gegnern statt, sondern die Stadt selber wurde zum Angriffspunkt der Erpressung gemacht. Die Ereignisse sind ein Einschnitt in den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft. Etwas ist zerrissen in diesen Tagen, das nicht so leicht wieder zusammengefügt werden kann.

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Zwei Risse in der Stadt – Zum einen ist das unsichtbare Band, das die Hamburger Stadtgesellschaft zusammenhält, beschädigt. Dies Band heißt Zivilität und besteht aus unzähligen, ungeschriebenen, unscheinbaren Formen, die oft selbstverständlich erscheinen, aber ohne die kein größeres soziales Gebilde funktioniert. Das gilt insbesondere für die großen Städte, wo eine große Menschenzahl dicht zusammenlebt, ohne sich näher zu kennen und ohne alles im Gespräch ausdiskutieren zu können. Zu diesen Formen gehören Höflichkeit, Takt, Aufmerksamkeit. Und auch die Formen der Beobachtung, Missbilligung und Zurückweisung, wo Aggression und Verwahrlosung auftauchen. Zivilität ist also eine begrenzte Form der Gemeinschaftsbildung. Sie ist nicht allzu intim und beengend, aber sie begnügt sich auch nicht mit einem gleichgültigen gesellschaftlichen Nebeneinander. In diese Gemeinschaftlichkeit der Hamburger sich eine fundamentale Unsicherheit eingeschlichen. Dazu hat die Brutalität der Gewalt beigetragen, aber auch die Kälte, mit der sie exekutiert wurde, und die Willkür, mit der sie ihre Ziele auswählte. Aber auch die lässige Gleichgültigkeit, mit der die Willkürzustände in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung aufgenommen wurden.

Die Leichtigkeit, mit der die extreme Gewalt sich in der Stadtöffentlichkeit auf- und untertauchen konnte. Und auch die Nähe, die zwischen den Formen der marodierenden Gewalt und den Formen der nomadisierenden Spaßgesellschaft bestand. So sind die Haltepunkte, an denen eine Bürgergesellschaft ein Minimum an gegenseitiger Verlässlichkeit findet, oft nicht mehr erkennbar gewesen. Und das alles, so fragen sich viele Hamburger, muss sich doch in unserer Mitte schon länger entwickelt haben. Haben wir uns so in unserer Stadt getäuscht? Sie fragen sich aber auch: Sind unsere Erwartungen an eine zivile Bürgergesellschaft eventuell veraltet? Dürfen wir solche Erwartungen in der vielzitierten Globalisierung überhaupt haben?

Und noch ein zweiter Riss hat sich aufgetan. Auch das Schutzversprechen, das Gesellschaft und Staat miteinander verbindet, ist beschädigt. Die Menschen fragen sich, ob dies Versprechen noch gilt. Warum war die Polizei so hilflos? Warum urteilt die Justiz nicht schneller und härter? Der Zweifel gilt nicht so sehr den Fähigkeiten und Mitteln des Staates, sondern vielmehr der Bereitschaft des Staates, seine Fähigkeiten wirklich konsequent einzusetzen. Der Hamburger Senat hat geduldet, dass die „Rote Flora“ zum Stützpunkt von schweren Gewaltaktionen wurde. Gerichte haben angeordnet, dass der Senat anlässlich des G20-Gipfels „Protestcamps“ zulassen muss, obwohl man wusste, dass sie als Stützpunkte und Rückzugsorte für Gewaltaktionen dienen. Was in Hamburg dann geschehen ist, hat gezeigt, dass es bei solchen Entscheidungen darum geht, ob der Staat vor dieser neuen Mob-Gewalt kapituliert oder nicht. Es ist klargeworden, dass die Behauptung des Gewaltmonopols schwerste Auseinandersetzungen mit sich bringt. Den Einsatz der entsprechenden Mittel von Polizei und Justiz haben aber die verantwortlichen Politiker und Richter praktisch zu einem sozialen und rechtlichen Tabu erklärt. Auf Bürgerversammlungen werden die Menschen mit der Botschaft nach Hause geschickt, dass „das alles nicht so einfach“ sei. Und dann, zu Hause angekommen, stellen sie fest, dass ihnen soeben nichts anderes gesagt wurde, als dass sie nun ständig mit der Gewalt-Drohung leben müssen. Man hat ihnen durch die Blume mitgeteilt, dass der Schutzvertrag zwischen der Gesellschaft und dem Staat faktisch außer Vollzug gesetzt ist. Kein Wunder, dass die Menschen da bedrückt sind. Sie fragen sich, ob sie sich in ihrem Staat so getäuscht haben. Sie sind aber auch im Zweifel, ob sie den Einsatz aller notwendigen Mittel überhaupt erwarten dürfen. Ist das Gewaltmonopol vielleicht eine „veraltete“ Vorstellung? Leben wir in einer Zeit des Post-Landfriedens?

An dieser Stelle wird deutlich, wie selbstzerstörerisch es wäre, wenn Deutschland jetzt einfach zur Tagesordnung übergeht. Es wird aber auch deutlich, dass es nicht nur um eine Schulddiskussion geht. Das tiefere Problem, das im Raum steht, ist ein Auflösungsproblem: Welche Bindungen von Gesellschaft und Staat dürfen in unserer Gegenwart überhaupt erwartet und verlangt werden? Der vorliegende Text ist ein Zweiteiler – in diesem ersten Teil geht es um die Zerstörung des zivilen Bandes der Hamburger Stadtgesellschaft.

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Die kalte Exekution von Gewalt (I) – Es war in diesen Tagen viel von der „Wut“ die Rede, die in Hamburg angeblich zu einer „Gewaltorgie“ geführt hat. Solche Worte erwecken den Eindruck, dass die Täter irgendwie spontan handelten. Sie bescheinigen ihnen menschliche Gefühle. Dabei wird ein ganz entscheidender Wesenszug der Gewalt ausgeblendet: Sie wurde mit geradezu mechanischer Kälte ausgeübt. Die Gewalt wurde exekutiert. Es liefen programmierte, systematische und antrainierte Gewalthandlungen ab. Es gab eine planvolle Logistik. Dazu gehörte auch die Heimtücke, mit denen andere Menschen als Schutzschilde gebraucht wurden. Und die Verschlossenheit der vermummten Gruppen, die das genaue Gegenteil der Freimütigkeit ist, mit der sich der Volkszorn äußert. Aber nicht eine menschliche Regung, die durch Verletzung und Betroffenheit ausgelöst wird, war hier spürbar, sondern es lief eine Maschinerie der Gewalt ab.

Das ist auch an der Sprache ablesbar. Die FAZ (11. Juli) zitiert einen Blogger, der dabei war, als ein gewalttätiger Mob im Schanzenviertel eine Rewe-Supermarkt aufbrach und plünderte. In seinen Worten hört sich das so an: „Rewe am Schulterblatt wurde von DemonstrantInnen geöffnet. Lebensmittel werden verteilt.“ Hier sprechen keine Hungernden, sondern ein Versorgungsausschuss der Macht. Die Organisatoren der Demonstration „Welcome to Hell“, die am Donnerstag den Ausgangpunkt der gewalttätigen Mobs bildete, gaben via Internet für den Fall einer vorzeitigen Beendigung der Demonstration die Anweisung, „spontan und unberechenbar“ zu sein und sich „in großen Gruppen zu bewegen“. Und weiter: „Denn wir nehmen uns die Straße, wann, wie und wo wir wollen.“ (Zitat FAZ 11.Juli). „Wir nehmen uns“ – Das ist er wieder, der Exekutions-Indikativ, der kein Nachdenken und keinen Einwand duldet. Am 8. Juli hatte die gleiche Zeitung von einer kleinen Szene zu Beginn der Demonstration berichtet. Jemand fragt, warum sich der „schwarze Block“ an die Spitze des Zuges gesetzt hat. „Weil sie der schwarze Block sind, weil sie das wollen“ war die Antwort. Eine zweite Szene: Eine Gruppe Vermummter marodiert die feine Elbchaussee entlang. In einem Video, das aus einem Linienbus gemacht wurde, sieht man eine Gruppe Vermummter, die die Elbchaussee herunterzieht. Sie zünden bengalische Feuer an, schwärmen aus und stecken Autos in Brand. Allein hier zählte man später 25-30 verbrannte Autos. „Bonzenviertel abarbeiten“ heißt das in Autonomenkreisen. Was wäre gewesen, wenn einer dieser „Abarbeiter“ auf die Idee gekommen wäre, sich umzudrehen und den Bus anzuzünden? Das ist vor ein paar Jahren in Frankreich geschehen – eine junge Frau ist damals verbrannt.
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Die kalte Exekution von Gewalt (II) – Lassen wir einmal den Schwarzen Block beiseite. Was bedeutet es, wenn Straßenblockaden als „friedliche Aktionen“ bezeichnet werden? Damit wird nicht etwas, was einmal passieren kann, geschildert, sondert es wird durch eine Umdefinition von „Demonstration“ ein systematisches Recht auf Beschädigung des Stadtlebens und der Veranstaltungen anderer deklariert. Es wird das Recht in Anspruch genommen, den Zivilkodex des städtischen Miteinanders nach eigener Willkür außer Kraft zu setzen. Es war das erklärte Ziel der G20-Gegner, in die Schutzzone um den Veranstaltungsort einzudringen und, wenn möglich, Gebäude zu besetzen („G20 entern“). Und was wäre eigentlich mit den Gipfelteilnehmern geschehen, wenn die „friedlichen Straßenkämpfer“ ihrer habhaft geworden wären?

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Die globalen Formeln (I) – Entgegen der ständig betonten „Vielfalt“ war die Sprache des Protests eigentlich sehr eintönig. Der Protestgipfel war ein sehr kahler Gipfel, auf dem die Luft sehr dünn war. So dünn, dass das ganze Gegenprogramm in jenem einen Mantra-Wort resümiert werden kann, das überall gehämmert wurde: „antikapitalistisch“. So war die Plattform, von der aus die Plattform des offiziellen Gipfels herausgefordert werden sollte, eine weitgehend leere oder nur negative Plattform. Nirgendwo hat der Protest-Gipfel den offiziellen Gipfel mit einer positiven Alternative überbieten können – weder wirtschaftlich, politisch oder kulturell. So waren auch die angeblichen Marxisten weit davon entfernt, die Macht historisch neuer Produktivkräfte zu beschwören. Die Protestler kamen gar nicht auf die Idee, dass sie ein Mehr bieten mussten. Die Losung „antikapitalistisch“ dokumentiert diese Leere. Sie steht für eine Art Einebnungsprogramm. Alles soll gleicher werden. Die Vielfalt, die beschworen wird, soll all ihrer Höhen beraubt werden. Sie wird zur egalitären Vielfalt plattgemacht – tabula rasa.

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Die globalen Formeln (II) – Man sollte die Überhitzung einer Ideologie nicht mit dem Aufbrausen der Wut verwechseln. Letztere mag heftiger sein, aber die erstere reicht weiter und ist daher die größere Gefahr.

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Die globalen Formeln (III) – Unter dem Titel „Was ist eine brennende Tonne gegen den Hunger in der Welt“ berichtet eine Journalistin der FAZ (29.Mai) aus einem Trainingscamp für Gipfelgegner „in einer Grundschule im Hamburger Norden“ (wie das?). Dort wurden die Camp-Teilnehmer nicht nur in „friedlicher“ Blockadetechnik ausgebildet, sondern auch in unwiderlegbarem Argumentieren: Die Geschichte von der brennenden Tonne und dem Hunger in der Welt ist ein Vergleich zwischen zwei Übeln. Einem nahen kleinen Übel und einem großen fernen Übel. Wenn man dem Vergleichs-Spiel folgt, wird man dazu neigen, das kleine nahe Übel zu entschuldigen, weil das andere Übel ja so unendlich groß ist. Aber was haben die beiden Größen eigentlich miteinander zu tun? Rechtfertigt die Größe des großen Übels in der Ferne die willkürliche Schaffung eines zweiten Übels (der brennenden Tonne) in der Nähe? Bringt die brennende Tonne Afrika mehr Brot? Natürlich nicht. Sie setzt nur „ein Zeichen“ und liegt daher von vornherein in einem ganz anderen Bereich, der symbolischen Politik und Ökonomie. Die brennende Tonne hat mit dem Hunger in Afrika real nichts zu tun. Sie befriedigt nur ein ideologisches Bedürfnis derjenigen, die weit über diesem Problem stehen.

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Herrschaftsgewalt – Wenn man das „Reden gegen die Reichen“ hört, das in Hamburg allerorten zu hören war, könnte man vielleicht vermuten, dass hier eine Unterklasse gegen eine Oberklasse gekämpft hat. Und dass die Gewalt von der Art früherer Hungerrevolten war. Bei solchen Revolten kämpften die städtischen Unterschichten um ihr Überleben und ihre Stadtteile; sie kämpften mit offenem Visier und setzten ihr eigenes Hab und Gut auf den Barrikaden ein. Im Hamburger Juli 2017 geschah etwas ganz anderes: Eine marodierende, entwurzelte Gewalt überzog alle möglichen Orte mit Gewalt. Und nichts lag ihr ferner, als das eigene Mobiliar oder Fahrzeug den Flammen des „Straßenkampfes“ auszusetzen. Wohl aber das der Nachbarn und Nachbarstraßen. Im Schanzenviertel wurden Anwohner, die versuchten, Brände zu löschen und ihre Autos zu schützen, von den schwarz-vermummten Straßenherren mit der Faust niedergeschlagen. Diese Freischärler sind nicht wirklich mit einem Stadtteil verbunden. Die Heimat-Bindung an einen festen Ort ist ihnen fremd. Die angeblichen „Globalisierungsgegner“, die ihre Endkämpfe an den Gipfelorten der Weltpolitik austragen, sind im Grunde eine bindungslose Oberklasse.

Der Anwalt der Hamburger „Autonomen“, Andreas Beuth, hat sich über die Gewalttaten wie folgt geäußert: „Wir als Autonome und Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber doch bitte nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese?“ (Zitat FAZ 11. Juli) Man achte auf den lässigen Tonfall, mit dem hier über die Gewalt disponiert wird. Der eine oder andere Einsatzort wird nahegelegt – hier spricht einer von höherer Warte. Es ist Herrschaftsgewalt, die hier ausgeübt wird – willkürliche Herrschaftsgewalt. Ihr geht es allein darum, Furcht zu verbreiten. Ob Blankenese oder das Schanzenviertel – um ihre destruktive Kraft zu demonstrieren, sind dieser Gewalt alle Gelegenheiten recht. Die Aufforderung des Herrn Augstein, in Hamburg den Preis hochzutreiben, folgt dieser Logik.

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Der Gipfel-Protest hat nicht Hamburg verteidigt – Es ist falsch, das Gewaltregime, das in Hamburg einige Tage lang das Geschehen bestimmte, auf „Banden“ oder eine bestimmte „Gewaltszene“ zu begrenzen. Es gibt eine Reihe von sozialen Milieus, die durch ihre Existenzweise, ihren Bildungsgang, ihre Erwerbsquellen, ihre Lebensführung und ihrer Wahrnehmung der Dinge eine Nähe zum globalen Protest und zum Handeln aus eigener Willkür haben. Sie stellen in den Großstädten der Gegenwart einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil dar. Aber dadurch werden sie noch nicht zu Vertretern und Verteidigern ihrer Stadt. Im Gegenteil. Sie haben – in ihrer entwurzelten und nomadisierenden Daseinsform – keine starke Bindung an die Stadt, in der sie leben. Soweit es um die zivilen Bindungen geht, die eine Stadtgesellschaft zusammenhalten, sind sie eigentlich gar keine Stadtmenschen. Es sind sozusagen „stadtlose Städter“.

Der Gipfel-Protest hat daher nicht, wie man vielleicht denken könnte, Hamburg gegen die „Besetzung“ durch eine globale Konferenz verteidigt. Die Grundsätze und Absichten, die die Protestierer vertraten, hatten mit der großen deutschen Hafen-, Handels- und Industriestadt Hamburg nichts zu tun. Diejenigen, die davon träumten, „ein Zeichen zu setzen“ und damit Geschichte zu schreiben, haben mit der Stadtgesellschaft der Hansestadt wenig im Sinn – weder mit dem Bürgertum, noch mit der Arbeiterschaft. Sie erwecken den Eindruck, eine neue Form von Gesellschaft zu repräsentieren, von der sie aber nur sagen können, dass sie irgendwie „offen“ und irgendwie „besser“ ist. Für die Gestaltung des bestimmten Ortes mit Namen „Hamburg“ haben sie keinerlei Idee. Am Ende ihres Weges wartet … nichts.

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Sinn und Grenzen der Gemeinschaft (I) – Das Geschehen in Hamburg werfen die Frage auf, welche Form von Gemeinschaftlichkeit für eine moderne Großstadt angemessen ist. Oder ob überhaupt jedwede Form von „Gemeinschaft“ in unserer Zeit veraltet und „reaktionär“ ist. Die Willkürherrschaft, die in Teilen Hamburgs zum Zuge kam, sollte eine Warnung sein, es mit der Verabschiedung der Gemeinschaftsidee nicht zu weit zu treiben.

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Sinn und Grenzen der Gemeinschaft (II) – Ein anderes Denkmodell liefert die Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ von Helmuth Plessner (1924 veröffentlicht), deren Untertitel „Eine Kritik des sozialen Radikalismus“ lautet. Plessner verwirft den Gemeinschaftsgedanken nicht völlig, aber er versucht, Grenzen zu ziehen. Er versucht, die Richtungen zu präzisieren, in denen gefährliche Radikalisierungen von Gemeinschaft möglich sind. Das Wichtige ist: Plessner sieht nicht nur eine Richtung, sondern zwei (insbesondere im Kapitel „Möglichkeiten der Gemeinschaft“). Die eine Gefahrenzone der Gemeinschaftsbildung haben wir heute recht klar vor Augen: Wenn es zu eng, zu allumfassend, zu provinziell wird und wenn eine Gemeinschaft „keine Luft zum Atmen“ lässt, wird es gefährlich. Dazu rechnet Plessner dann auch die feste Bindung des Zusammenlebens an einen Ort (den „Boden“) und eine Sippe (das „Blut“), die dann zu autoritärer Herrschaft führt. Aber Plessner stellt dem nicht einfach pauschal eine gute „Offenheit“ gegenüber, sondern er sieht genau in dieser Richtung eine zweite Gefahr. Sie tut sich also auf der entgegengesetzten Seite der Enge auf:  Eine überdehnte Gemeinschaft verarmt und vereinseitigt die Menschen, sie macht sie zu abstrakten Wesen, die die Weite ihrer Welt nur dadurch bekommen, dass sie sie in großer Abstraktions-Höhe überfliegen und verflachen. Um universell zu sein, müssen die Menschen die Besonderheiten und Einseitigkeiten der Lebensrealität ausblenden. An dieser Grenze der Gemeinschaft wird die Luft gewissermaßen zu dünn, um atmen zu können. Plessner hat dabei unüberhörbar das weltkommunistische Ideal seiner Zeit vor Augen, aber bei heutiger Lektüre denkt man unwillkürlich an die „flat world“ der gobalen Netze. Wenn wir also heute die Frage stellen, welche Gemeinschaftlichkeit wir von einer Metropole erwarten können und dürfen, sollten wir auch an diese zweite Grenzüberschreitung denken. An den gefährlichen Radikalismus der Offenheit. An die dünne Luft der Abstraktheit.

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Sinn und Grenzen der Gemeinschaft (III) – Die Symptome der Hamburger Juli-Ereignisse weisen in diese Richtung. Hier spricht eine kalte, abstrakt-gleichmachende, global-nomadisierende Gewalt und Ideologie. Sie hat mit der konkret-bestehenden und ihre Geschichte lebenden Stadt Hamburg nichts zu tun. Im Gegenteil nimmt sie massive Verletzungen der Stadt und ihres bürgerschaftlichen Zusammenhalts in Kauf, um ihre vagen, planetaren Visionen zu verwirklichen. Wenn man auf diesem Weg weitergeht, wird man keine neue Stadt finden, nichts, was überhaupt den Namen „Stadt“ verdient, sondern jene ortlose „vernetzte“ Welt, die auch manche Ideologen des offiziellen G20-Gipfels beschwören. Man kann ahnen, warum man bei den Regierenden in Deutschland, die bekanntlich das globale „Offene“ besonders naiv beschwören, keine Neigung besteht, den Hamburger Willkürtagen tiefer auf den Grund zu gehen. Es könnte dann offenbar werden, dass in der Globalisierung ein sozialer Radikalismus angelegt ist. Ein gleichmachender Radikalismus, ein Radikalismus von links.

Die Hamburger sollten sich daher nicht einreden lassen, ihre Normen der Zivilität seien überholt. Sie müssen nicht die Behauptung akzeptieren, dass heute eine globale „Modernisierung“ unvermeidlich ein erhöhtes Level von Entwurzelung und Willkür mit sich bringt. Sie dürfen auf der Erwartung bestehen, dass es weiterhin in ihrer Stadt einen besonderen bürgerschaftlichen Zusammenhalt geben muss. Einen anderen Zusammenhalt hat niemand zu bieten.

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