Tichys Einblick
Helds Ausblick 8-2020

Von einer „größten Krise“ in die nächste mit einer viel zu kleinen Krisenmanagerin

Die „Corona-Krise“ hat immer weniger mit Corona zu tun. Sie ist Teil eines Krisenkomplexes, der blind auf einen Systemwechsel zusteuert.

imago Images/IPON

Die Corona-Krise sei „die größte Krise seit dem 2. Weltkrieg“, hat die Bundeskanzlerin schon im März erklärt. Das ist ein extremer Vergleich, der dem Regierungshandeln einen historischen Rang verleihen soll. Doch zeigt gerade dieser Vergleich, wie wohlfeil in dieser Zeit „größte Krisen“ beschworen werden können. Wo nämlich ist die Demut, die eigentlich große Krisenzeiten kennzeichnen? Wo ist die Sparsamkeit und der Anpassungswille des Überlebens, wo die Rückbesinnung auf die Essentials von Wirtschaft und Staat? Stattdessen werden Billionen-Programme aus der Gelddruckmaschine beschlossen, die es erlauben sollen, alle Krisen-Verluste auszugleichen. Was für ein Selbst-Widerspruch: Man ruft eine Krise aus, die mit den Verheerungen des zweiten Weltkriegs vergleichbar sein soll, und beschließt dann Maßnahmen, die allenfalls für eine Konjunkturkrise angemessen sind.

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Es gehe darum, die Wirtschaft wieder „anzukurbeln“, heißt es – als wäre die Wirtschaft ein Selbstläufer, der ab und zu mal ein paar Umdrehungen Anfangsschwung braucht. Da waren die Agenda-Reformen der Regierung Schröder ungleich ernsthaftere Eingriffe. Und ihre Begründung kam doch ohne die rhetorische Hyperdramatik einer terminalen Krisenlage aus. Der Vergleich macht deutlich, wie sehr sich die Führung von Staat und Wirtschaft in eine oberflächlich-sachferne „Menschenführung“ verwandelt hat. Und wie billig ist sie dadurch geworden: Noch nie war es so leicht, große und größte globale Krisen auszurufen – denn noch nie war der Glaube so mächtig, dass es für alles „intelligente“ Lösungen gibt. Lösungen, die versprechen, es ginge ohne Blut, Schweiß und Tränen.

In dieser Hinsicht ist auch der Vergleich mit den Nachkriegsjahren und dem ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik lehrreich: Damals mussten Staat und Gesellschaft wirklich unter extremen Knappheits-Bedingungen handeln, und sie konnten gerade daraus ein Stück Achtung und Würde gewinnen. Wie völlig anders ist demgegenüber die heutige Situation, wo der Glaube regiert, man müsse und könne die Menschen durch täglich neue, milliardenschwere Fördertöpfe bewegen. Und mehr noch: Wo man glaubt, man brauche die „harten“ Großindustrien (Kraftwerke, Automobilbau) nach der Stilllegung gar nicht wieder in Gang zu bringen, sondern könne sie einfach durch „ganz neue“ leichtgängigere, sauberere Betriebe und Produkte ersetzen. So soll sich der angehäufte Schuldenberg wie durch Zauberhand in einen neuen „Deal“ verwandeln – einen „grünen“ Deal, der müheloser und schmerzfreier ist als alle Deals, die je stattgefunden haben.

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Eine Stunde Null, die die Gesellschaft spaltet – „Nichts wird so bleiben, wie es war“ hört man allenthalben. Doch die Leute, die dies Raunen von sich geben, sagen das mit merkwürdig zufriedenem Gesichtsausdruck. Eigentlich ist das Ereignis „Corona“ ja ein Negativ-Ereignis. Es hat bestehende Errungenschaften und Freiheiten zerstört oder zumindest beeinträchtigt. Die Reaktion der Regierungen auf diese Beeinträchtigung zu einer großflächigen Stilllegung des Landes gesteigert. Aus dieser Stilllegung sind die Betriebe, Geschäfte, Gaststätten, Schulen, Theater, Sportstätten, Bahnhöfe usw. noch nicht wirklich heraus. Doch nun zeigt sich, dass es auch einen Teil der Gesellschaft gibt, der den Stillstand als Gewinn ansieht. Während für viele Menschen, die jetzt in wirkliche Not geworfen sind und mit dem Untergang ihrer Unternehmen und Arbeitsplätze rechnen müssen, der Satz „Nichts wird so bleiben, wie es ist“ ein Schreckensruf ist, gibt es einen anderen Teil, der im Stillstand der „Stunde Null“ die Chance sieht, dem Land nun eine Zukunft nach eigenem Gutdünken zu verschreiben und dies auch durchzusetzen.

Viel Getöse, wenig dahinter
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Was über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebaut wurde, wird null und nichtig, aber es gibt einen Teil der Gesellschaft, dem dieser Verlust weitgehend gleichgültig ist, oder der den Verlust sogar ausdrücklich begrüßt. Für ihn bedeutet die Stunde Null nur „freie Bahn!“: Sie eröffnet die Gelegenheit, unbehelligt von jeglicher Vergangenheit eine „ganz neue“ Zukunft zu kreieren. Was ist das für ein gesellschaftlicher Sektor, der so tickt? Was ist das für eine soziale Position, die eine solche Willkür erlaubt? Diese Fragen, die sich schon bei anderen Krisen wie der Migrationskrise oder der Klimakrise stellten, haben sich mit der Corona-Krise weiter zugespitzt. Das bürgerliche Dasein, das seine Stärke, sein Maß und seinen Halt im Sach- und Weltbezug fand, ist in der gegenwärtigen Krise fundamental entwertet. Das gilt auch für die Arbeiterschaft, wenn man bedenkt, wie leichtfertig gegenwärtig die Bestände der deutschen Automobilindustrie verspielt werden. Aber was soll an die Stelle der bürgerlichen Daseinsweise treten? Es lohnt sich, unter diesem Gesichtspunkt die Corona-Krise zu beobachten und sich nicht mit der scheinradikalen Erklärung einer „Verschwörung“ finsterer Mächte zufrieden zu geben. Es geht um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung.
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Der Mythos vom „neuen sozialen Zusammenhalt“ – Die massiven Isolationsmaßnahmen gegen die Corona-Epidemie haben verschiedene soziale Gruppen sehr ungleich getroffen. In vielen Industrie- und Handwerksbetrieben, Großküchen, Umzugsunternehmen, bei Feuerwehr und Polizei muss die Arbeit mit sehr schwachem Kontaktschutz verrichtet werden (weil sie sonst nicht vernünftig machbar ist). Dagegen finden sich für die Rückkehr des Bildungssystems zum Normalbetrieb bis heute immer neue Einwände. Man suggerierte, die „Digitalisierung des Unterrichts“ sei ein zukunftsweisender Ersatz. In der Realität wurde durch solche Maßnahmen ein erheblicher Teil der Schüler von den Leistungen des Bildungssystems ausgeschlossen – das allgemeine und gleiche Recht auf Bildung wurde durch exklusive Netzwerk-Beziehungen der Lehrer zu einem Teil ihrer Schüler ersetzt.

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Man hat immer wieder den „neuen sozialen Zusammenhalt“ beschworen, der durch die Notstandsmaßnahmen gegen Corona entstanden sein soll. Dies war ein sehr merkwürdiger Zusammenhalt, denn ein großer Teil der Gesellschaft wurde zur Passiv-Rolle des „Wir bleiben zu Hause“ verurteilt, während ein anderer Teil die Aktiv-Rolle an den Mikrophonen und Geldtöpfen besetzen konnte. Die täglichen Corona-Sondersendungen im Fernsehen, die sich gewissermaßen zu einer „zweiten Tagesschau“ entwickelt haben, enthalten ja eine kolossale Machtverschiebung zwischen Sendern und Empfängern. Die Lebensführung der Menschen wird „mediatisiert“. Mehr denn je werden die Menschen Zuschauer ihres eigenen Alltagslebens.
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Wie der Ausnahmezustand ausgenutzt wird – Offiziell dienten die umfassenden „Not-Maßnahmen“ nur dem Schutz der Bevölkerung vor dem Corona-Virus. In Wirklichkeit wurde der Zusammenhang von Stilllegung und Wiederankurbeln dazu genutzt, um Richtungsentscheidungen durchzusetzen, die mit dem Corona-Problem nichts zu tun haben. Im „Konjunkturprogramm“, das der Wirtschaft helfen soll, die Folgen der verfügten Schließungen zu überwinden, wurde bekanntlich eine weitere Kaufprämie für E-Mobile beschlossen, während sie für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor abgelehnt wurde. Das bedeutet eine Preis-Diskriminierung für über 90% des Automarktes und eine Spaltung der Autoindustrie.

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Die Menschen wollen keine „Chancen“, sondern Sicherheit
So werden die Corona-Schließungen auf einmal zu klimapolitischen Schließungen. Dabei ist der ökologische Wert der E-Mobile hochumstritten, aber die Corona-Stilllegungen schädigen die bestehende Industrie so stark, dass die E-Mobile eine privilegierte Stellung bekommen, die in absehbarer Zukunft auf eine Monopolstellung auf dem Neuwagen-Markt hinausläuft. Obwohl die Lösung „E-Mobil“ die Auto-Käufer nun schon seit Jahren nicht überzeugen kann, wird so die Corona-Notlage ausgenutzt, um die Unternehmen noch stärker in die E-Mobil-Produktion zu zwingen.
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Die Schlüsselfrage der Auslastung – In diesen Tagen achten viele Unternehmer (und ihre Beschäftigten) besonders darauf, wie viele Plätze sie in ihren Geschäften, Hotels, Gaststätten, Theatern, Sporthallen, Bussen, Bahnen, Flugzeugen nach den „Lockerungen mit Auflagen“ anbieten können, und wie viele Menschen unter den erschwerten Bedingungen tatsächlich kommen. Es genügt eben nicht, dass die Betriebe öffnen dürfen. Es kommt darauf an, wie sie ausgelastet sind. Nur wenn die Auslastung ein bestimmtes Maß erreicht, können positive Erträge erwirtschaftet werden. Nur dann können Löhne, Unternehmereinkommen, Mieten, Kreditzinsen bezahlt werden. Anlässlich der Demonstrationen von Reisebus-Unternehmen haben die Sprecher ganz nüchtern vorgerechnet, wie hoch die täglichen Verluste sind, wenn ein Bus (mit den geltenden Abstandsgeboten im Bus) fährt. Die „Lockerungen“ änderten hier nicht daran, dass ein ganzes Gewerbe vor dem Konkurs steht.

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Mit anderen Worten: Wir werden in den kommenden Monaten erst richtig lernen, wie sehr die Wertschöpfung der modernen Marktwirtschaft auf Skaleneffekten beruht – auf der Ausnutzung großer bzw. teurer Arbeitsmittel durch relativ viele Menschen. Die Volkswirtschaft existiert nur unter diesem eisernen Verhältnis-Gesetz der Skaleneffekte. Wir werden das wohl erst lernen, wenn sich das Fehlen der Skaleneffekte in den Erträgen bemerkbar macht. Das sind die Folgen der pauschalen Corona-Stilllegungs-Politik. Sie treffen übrigens auch den Staat, dessen öffentliche Infrastrukturen nur bei einer beträchtlichen Auslastung finanzierbar sind. Das Deppenspiel „Staat gegen Markt“ hilft aus der Corona-Krise nicht heraus.
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Der Hype namens „homeoffice“ – Vor diesem Hintergrund ist der Eifer, mit dem in den letzten Wochen und Monaten das „homeoffice“ als Antwort auf die Kontaktverbote und Stilllegungen propagiert wurde, erstaunlich. Offenbar kümmert das Auslastungsproblem einen Teil der Gesellschaft gar nicht. Man kann das so verstehen, dass es heute einen beträchtlichen Teil von Funktionen gibt, die nicht mit großen Produktionsmitteln und den entsprechenden Betriebsstätten verbunden sind. Offenbar gehen diese Berufsgruppen auch davon aus, dass sie ihre Leistungen erbringen und ihre Bezahlung erhalten, während der andere Teil der Gesellschaft in Konkurs geht. Eventuell denken sie, dass die Leistung, die sie häuslich erbringen, irgendwie „global“ wirksam ist und honoriert wird. Dann hätte das „homeoffice“ eine kuriose Pointe: Die Globalisierung wird häuslich – was für eine Wiederauferstehung des Kleinbürgertums! Tatsächlich trifft man heute nicht nur beim politischen und wirtschaftlichen Management und Beratungswesen, sondern auch bei Wissenschaftlern, Künstlern und Medienleuten eine Neigung zu Weltthemen, die mit dem eigenen Fach und Fachumfeld nichts zu tun haben.

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Eine „Corona-Krise“, in der es immer weniger um Corona geht – Das große Thema „Corona-Krise“ vermittelt immer weniger den Eindruck, dass es noch um eine konkrete Gefahren-Abwehr geht. Wo anfangs vor unmittelbar drohenden Ansteckungswellen gewarnt wurde, ist jetzt nur von einer allgemein fortbestehenden Bedrohung die Rede. Massenweise Verletzungen von Kontaktverboten bei (guten“) Demonstrationen werden nicht geahndet. Wo ein konkreter Ansteckungsherd auftaucht, wie jetzt bei einem überwiegend von Roma bewohnten Gebäudekomplex in Berlin-Neukölln, lehnt es die Stadtverwaltung ab, die verhängte Quarantäne mit polizeilichen Mitteln durchzusetzen. Vor allem aber werden nun andere Krisen-Themen in die Corona-Krise hineingemischt, ohne dass es eine sachliche Verbindung gäbe. Wichtig scheint allein zu sein, einen allgemeinen Erregungszustand aufrecht zu erhalten, der das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben in Beschlag nimmt.

Gibt es Rassismus?
Sommer 2020 – Der Sturm auf die Bastille der europäischen Zivilisation
Gerade noch drohte uns der „Klimakollaps“. Dann wurde wegen einer „Weltseuche“ der Ausnahmezustand ausgerufen. Dieser ist noch nicht beendet, da wurde schon wieder eine neue Weltgefahr entdeckt: ein „globaler Rassismus“ geht um. Immer dichter folgen die Erregungs-, Empörungs-. und Rettungs-Rufe aufeinander. Atomenergie, Schulden, Migration, Klima, Corona, Rassismus – aus dieser Krisenkaskade ist eigentlich nur eine Negativbotschaft zu entnehmen. Die Botschaft, dass das „große Ganze“ irgendwie nicht mehr stimmt. Und dass es nicht wert ist, erhalten zu bleiben.
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Straßenraub – In verschiedenen Großstädten haben die dortigen Regierungen versucht, den Verkehrsrückgang in der Corona-Krise zu einer Ausdehnung der Radspuren auf Kosten der Autospuren zu nutzen. Mit der realen Veränderung der Verkehrszahlen hat diese Maßnahme nichts d“ ausgewiesen. Aber nun sollen die Ad-hoc-Veränderungen als definitive Fahrspurregelung beschlossen werden. Das Problem, wie Busse und Bahnen in Berlin wieder zur Normalauslastung zurückfinden, bleibt hier völlig außen vor. Die Frage, wiezu tun. Denn hier ist nicht der Autoverkehr in letzter Zeit rückläufig, sondern der Verkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus und Bahn) – von dort sind in Corona-Zeiten viele Menschen für Beruf und Einkauf auf den PKW umgestiegen, die Fahrrad-Nutzung hat eher als Freizeitnutzung zugenommen.

Das „Hallesche Ufer“ ist ein recht wichtiges Ost-West-Verbindungsstück im Berliner Straßenverkehr. Hier hat man den Autofahrern mit einer „Ad-hoc-Maßnahme“ (also quasi über Nacht) in beiden Richtungen jeweils eine Spur weggenommen. Und nun kann man jeden Morgen im Berufsverkehr zwischen 7 und 9 Uhr das Ergebnis besichtigen: Die neue Radfahrspur gähnend leer, die Autos dichtgedrängt auf der verbleibenden Reststraße. Bisher ist die Neueinteilung noch mit gelben Markierungen als „vorübergehen in einer so weiträumigen Metropole der Berufs- und Einkaufsverkehr zügig bewältigt werden kann, existiert für das Berliner Fahrrad-Milieu nicht.

Wer gedacht hat, die Zeit der Stilllegungen sei nun vorbei, sieht sich getäuscht. Sie geht immer weiter.

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