Vor den Februarwahlen gab es in Deutschland ein verbreitetes Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“ im Land, und dass es kein „Weiter-so“ geben könne. Das war gewiss kein ganz klares und sicheres Urteil, aber es reichte, damit sich viele Politiker im Wahlkampf genötigt sahen, einen „Politikwechsel“ zu versprechen. Sie erweckten den Eindruck, dass nun Fehlentscheidungen korrigiert würden und sich mehr Realismus in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik durchsetzen würde. Doch dann geschah etwas ganz Anderes. Etwas genau Entgegengesetztes.
Eine künftige Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD will die kommende Legislaturperiode von 2025 bis 2029 auf der Grundlage einer gigantischen Neuverschuldung des Staates bewältigen. Konnte man gerade noch hoffen, dass die kritische Lage des Landes zu einer begrenzenden Vernunft führen würde, wurden nun alle Grenzen staatlichen Handelns „geldpolitisch“ noch weiter aufgeweicht.
Für diesen Mechanismus der Aufweichung steht die Devise „Whatever it takes“, die der italienische Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, ausgab, um die Schuldenkrise vieler Länder zu überwinden. Die Devise des „Koste es, was es wolle – wir tun es“ bedeutete, dass die EZB gigantische Garantiesummen aufbot, um die Schuldenstaaten zu „retten“. Und so geschah es. Allerdings hat diese „Rettung“ bis heute nicht dazu geführt, dass diese Länder ihre strukturellen Defizite überwunden haben. Und ausgerechnet diese großtönende Devise, die die tieferen Probleme eines Landes nur mit Geld zuschüttet, soll nun über den kommenden fünf Jahren die Führung der Staatsdinge in Deutschland bestimmen.
Das kann man – mit Fug und Recht – als eine der größten Wählertäuschungen in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnen. Aber die Betrugs-Anklage bringt noch keine Klarheit über das, was Deutschland in der gegenwärtigen Situation fehlt. Es geht um die Aufgaben, die ein Staatswesen in einem modernen Land lösen muss – und die nur ein Staatswesen lösen kann. Um die Aufgaben, die nicht „dem Markt“ und auch nicht „der Gesellschaft“ überlassen werden können. Da liegt die wahre Dimension der jetzigen politischen Krise: Sie ist eine Krise des Staates. Es fehlt die Vernunft, die sich aus der Eigenart und den Beständen des Staates ergibt – die Staatsräson.
◊◊◊
Über die Vernunft des Staates (I) – Wenn von „Staatsräson“ die Rede ist, wird das häufig mit blindem Gehorsam (im Sinne von „jemanden zur Räson bringen“) verbunden. Aber es geht nicht um eine Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Autorität, die der moderne Staat geltend macht, liegt in der Sache, dem Land und dem damit verbundenen Amt. Es geht um eine Allgemeinheit von Rechten und Pflichten. Eine solche Allgemeinheit kann nicht den ganzen Wohlstand oder das „ganze Leben“ bestimmen, sondern nur die sachlichen und geistigen Gemeingüter. Mit der Differenzierung der individuellen Güter haben die Gemeingüter nicht an Bedeutung eingebüßt, sondern haben sich in modernen Zeiten ihrerseits weiterentwickelt. Sie haben tragende „Infrastrukturen“ gebildet, deren ständige Erhaltung und Weiterentwicklung ein prägendes Merkmal und ein kritischer Maßstab für das politische Handeln ist.
Der moderne Staat ist „stehender“ Staat und „Bestände“-Staat. Er verfügt nicht nur im personalen Sinn über einen millionenstarken „öffentlichen Dienst“, sondern auch im sachlichen Sinn über immense materielle und geistige Bestände. Darin ähnelt der Staat den modernen Unternehmen, aber er unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass er nicht auf Wertschöpfung, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit von Wertschöpfung gerichtet ist. Seine Leistung ist weniger eine Produktionsleistung als eine Tragleistung. Von daher bekommt der Begriff „Infrastrukturen“ seinen Sinn. Nur in diesem spezifischen Sinn kann man dann davon sprechen, dass der Staat ein „ganzheitliches“ Interesse vertritt.
Aber es ist eine gegliederte Ganzheitlichkeit, wenn man die unterschiedlichen Ebenen des Staates – Bund, Länder, Gemeinden – mit ihren unterschiedlichen Größenordnungen und Zuständigkeiten berücksichtigt. Auf dem Feld des „Ganzen“ steht nicht alles von vornherein fest. Auch hier gibt es Versuch und Irrtum („try and error“). Der politische Prozess ist – wie der Markt-Prozess – ein Suchverfahren. Die staatliche Vernunft ist also ein durchaus komplexes Gebilde. Wie die unternehmerische Vernunft in der Marktsphäre vieles zu erwägen hat – hat in der politischen Sphäre die Staatsräson viel zu tun: Sie muss die Gegebenheiten und Möglichkeiten in ihrem ständigen Wandel beobachten, sie muss das richtige Maß für ihr Handeln finden und die Aufstellung des Staates immer wieder anpassen.
◊◊◊
Über die Vernunft des Staates (II) – Dabei regiert ein wichtiges Prinzip: Ein Staatswesen muss die Gemeingüter und Infrastrukturen aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln erhalten und weiterentwickeln. Diese Mittel gewinnt es aus den Steuern und Entgelten der Bürger, die aber nicht Zwangstribute an „die Mächtigen“ sind, sondern auf dem eigenen Beitrag beruhen, den der Staat zur Leistungsfähigkeit des Landes einbringt. Ein Staatswesen muss nicht die unternehmerische Produktivität haben, aber es muss etwas leisten, das zur Produktivität der Unternehmen und zur Lebensführung der Haushalte etwas Grundlegendes und Dauerhaftes beiträgt. Deshalb ist ein Grundgebot der Staatsräson, dass die Finanzierung der Staatsausgaben nicht dauerhaft außerhalb des regulären Staatshaushalts erfolgen darf.
Eine Finanzierung durch Sonderschulden ist keine Lösung, sondern führt nur zu einer späteren erhöhten Rechnung. Sie führt also zu einer Notlage, in der die Bürger zu Zwangstributen herangezogen werden. Sonderschulden dürfen daher nur eingegangen werden, wenn nachweislich und greifbar eine so starke Prosperität in Aussicht steht, dass aus ihr die Sonderschulden beglichen werden können. Mit „gutem Willen“ und „Zuversicht“ sind die Anforderungen der Staatsräson nicht zu erfüllen. An dieser Stelle wird sichtbar, warum es so wichtig ist, die substanziellen Bestände, aus denen der moderne Staat besteht, zu erkennen und zu schützen. Mit diesen Beständen steht und fällt die Staatsräson eines modernen Staates. Und damit steht und fällt auch die Souveränität eines modernen Landes. An dieser Front muss sie verteidigt werden.
◊◊◊
Über die Vernunft des Staates (III) – An diesem Punkt zeigt sich auch, wie grundlegend die Beachtung von Grenzen für die Staatsräson ist. Das sind zum einen die inneren Grenzen. Der Staat kann und darf sich nicht mit allen Angelegenheiten der Bürger befassen. Er muss die Lösung vieler Probleme der Eigenverantwortung der Unternehmen und der Bürgerhaushalte überlassen. Zugleich muss die Staatsräson auch deutlich zwischen den inneren und den äußeren Angelegenheiten eines Landes unterscheiden. Das gilt sowohl für militärische oder zivile Interventionen im Ausland als auch für die Aufnahme von Migranten oder die Übertragung von Gemeingütern in fremde Hände. Was aus weltbürgerlicher Perspektive berechtigt erscheinen kann, muss aus Gründen der Staatsräson begrenzt und oft sogar ausgeschlossen werden. An dieser Stelle wird deutlich: Wer nicht von Grenzen sprechen will, verlässt den festen Boden der Staatsräson. Er verwickelt das Land in alle möglichen – inneren und äußeren – Abhängigkeiten. Er macht es zum Spielball der Ereignisse. Und er macht die politisch Verantwortlichen zu „Getriebenen“ von wuchernden Ansprüchen und Einflüssen.
◊◊◊
Wohin das „Whatever it takes“ führt – So sind wir nun an den Punkt des „Koste es, was es wolle“ gekommen. Aber die Konsequenzen werden noch unterschätzt. Für den beschlossenen gigantischen Schuldensprung müssen ab sofort und dann Jahr für Jahr Kreditgeber gefunden werden (zum Beispiel als Käufer von Bundesanleihen). Diese Schulden müssen bedient werden: Jedes Jahr muss (beim gegenwärtigen Zinsniveau) ein Zins von fast 3 Prozent an die Käufer überwiesen werden. Und diese Zahlung muss aus dem Staatshaushalt bestritten werden. Am Ende der Laufzeit ist dann die Rückzahlung des Gesamtkredits fällig, und sie muss ebenfalls aus dem Bundeshaushalt bestritten werden. Wird das erst problematisch „für unsere Kinder“, wie man hier und da lesen kann? Oh, nein, es wird schon für unsere Ersparnisse kritisch. Denn wo sollen die zusätzlichen Erträge und Einkommen herkommen, aus denen die Kredite in Höhe von knapp 1000 Milliarden erst bedient und dann zurückgezahlt werden? Sollen sie aus der Ukraine oder aus russischen Reparationen kommen? Sollen sie aus den erneuerten normalen Brücken und Bahngleisen kommen? Aus der teuren „erneuerbaren“ Energie? Oder gar aus den Elektroautos und Wärmepumpen?
Das ist ja das hässliche Geheimnis hinter der so mächtig klingenden Ankündigung von „Zukunftsinvestitionen“ und dem „Europa muss es selber stemmen“ im Ukraine-Krieg: Dort warten gar keine zusätzlichen Ertragsquellen und sprunghaften Effizienzsteigerungen, aus denen die gigantische Neuverschuldung gegenfinanziert werden könnte. Wie kann man sich auf der einen Seite ständig auf extreme „Notlagen“ berufen – mit einem angeblich drohenden russischen Angriff auf Europa und mit einer angeblich drohenden Überhitzung des Planeten – und auf der anderen Seite die Lösung einfach mit Geld auf Pump kaufen wollen? Die Abwehr von Notlagen zahlt keine Zinsen. Bei diesem sogenannten „Befreiungsschlag“ handelt es sich weder um wirkliche Investitionen noch um eine Vermögensbildung, sondern um eine zusätzliche Belastung der jetzt noch bestehenden Vermögen. Das „Whatever it takes“ steht über dem Tor zu einer großen Vermögensvernichtung in Deutschland.
◊◊◊
Nur die Rückkehr zur Staatsräson führt da heraus – Das Prinzip „Whatever it takes” ist das direkte Gegenteil jeglicher Staatsräson. Das „Koste es, was es wolle“ besteht ja darin, von absoluten „Aufgaben“ auszugehen, bei denen man keinen Gedanken darauf verwenden darf, ob diese Aufgaben eventuell sinnlos und ruinös sind. Genau an diesem Punkt kann und muss eine Wende ansetzen – indem dieses Land endlich damit beginnt, die Aufgaben kritisch zu betrachten und sich aus ihnen zurückzuziehen. Das aber kann nur geschehen, wenn man sich positiv auf die Sichtweisen und Anforderungen bezieht, die die Substanz und die Vernunft eines modernen Staatswesens ausmachen. Es reicht ganz offensichtlich nicht, hier nur subjektive „Werthaltungen“ oder „Identitäten“ ins Feld zu führen. Deutschland braucht die objektive Autorität einer Staatsräson.