Mehrere deutsche Zeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Berliner Zeitung, haben einem Ereignis, das am 16. Mai 1916 stattfand, große Artikel gewidmet. An diesem Tag wurde das sogenannte Sykes-Picot-Abkommen geschlossen. Es ist benannt nach dem Engländer Mark Sykes (Unterhaus-Abgeordneter der britischen Konservativen) und dem Franzosen Francois Georges Picot (Diplomat und ehemaliger Generalkonsul in Beirut) und leitete die territoriale Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ein.
„Einleiten“ ist der angemessene Ausdruck, denn das Abkommen ist – in einem längeren historischen Zeitraum betrachtet – ein Zwischenschritt. Während das Deutsche Reich auf die Kontinuität des Osmanischen Reiches setzte und die Mittelmächte mit ihm im 1. Weltkrieg verbündet waren, setzten die Entente-Mächte auf Teilung und Neubildung von Mächten. Großbritannien und Frankreich hatten dabei durchaus koloniale Ziele, aber sie mussten gegenüber dem osmanischen Imperium doch auf die zentrifugalen Kräfte setzen und haben diese, im historischen Ergebnis, gestärkt. So formten sich aus den Einflusszonen des Sykes-Picat-Abkommens schon in den 20er Jahren schrittweise eigenständige staatliche Einheiten im rechtlichen Rahmen des Völkerbundes. Und diese Entwicklung trieb weiter. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zu neuen Unabhängigkeitsbewegungen und zur Bildung neuer Eliten, die ihre Staaten stärker vom Westen absetzten und eigene Modernisierungswege versuchten. Es sind diese Versuche, die seit geraumer Zeit in eine Entwicklungskrise geraten sind. Die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten sind in ihrem Kern keine europäisch, westlich oder russisch verursachten Konflikte, sondern Ausdruck einer inneren Krise dieser Staaten.
Umso erstaunlicher sind die Überschriften, unter die deutsche Zeitungen in diesem Mai 2016 den Jahrestag des Sykes-Picot-Abkommens stellen. „Vor 100 Jahren die Konflikte von heute geschaffen“, titelt die Berliner Zeitung (14.5.2016), und fährt in der Unterzeile fort: „1916 teilten Briten und Franzosen den Nahen Osten in Einflusssphären. Zum Frieden hat es nicht beigetragen“. Im gleichen weltbelehrenden Ton ist die Überschrift in der FAZ gehalten: „Imperialer Federstrich – Wie die Großmächte keine neue Friedensordnung im Nahen und Mittleren Osten schufen“. Hier wird ein äußerer Schuldzusammenhang hergestellt.
Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 soll die Ursache für die heutigen Krisen, Kriege und Bürgerkriege sein. Von der inneren Entwicklungs-Krise in den seit vielen Jahrzehnten unabhängigen Staaten ist nicht mehr die Rede. Der Nahe und Mittlere Osten ist das Opfer, Europa ist der Täter. Man wirft den Europäern vor, dass sie „keine Friedensordnung schufen“. Als wäre das in ihrer Macht gewesen. Und als wäre so eine von außen geschaffene Friedensordnung überhaupt sinnvoll gewesen.
Diese Artikel erscheinen jetzt, im Jahr 2016, mitten in einem Massenansturm von Flüchtlingen auf Europa. Das kann man eine Rückwärtsprojektion und eine historische Legendenbildung nennen. In einem Rückgriff über einen ganzes Jahrhundert wird eine europäische Urschuld konstruiert. Das Datum „1916“ soll heute für eine fortdauernde Schuld Europas im Nahen und Mittleren stehen. Und das hat eine ganz handfeste Konsequenz: Das heutige Europa soll für die Krise der arabisch-islamischen Welt geradestehen. Es soll für die Notlagen, Konflikte und nicht zuletzt für die Massen-Emigration aufkommen – weil es „Folgen von 1916“ sind.
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Erneut in die osmanische Sackgasse? – Bei genauerer Lektüre der Artikel stellt sich heraus, dass die Legende von der „europäischen“ Schuld eigentlich eine britisch-französische Schuld meint. Diese Länder sollen die heutigen Konflikte geschaffen haben. Dabei wird der Sündenfall des Sykes-Picot-Abkommens in dem trennenden Element der Grenzziehungen gesehen. Der Zeitungsleser bekommt den Eindruck, die Durchtrennung der alten osmanischen Reichseinheit hätte die Konflikte geschaffen. Damit argumentieren die Autoren recht nah am Gedankengut des Panarabismus und Panislamismus. Und genau an dieser Stelle fällt eine Auslassung auf: Das Deutsche Reich, das 1916 auf der Seite des Osmanischen Reiches stand, wird mit keinem Wort erwähnt. Standen die europäischen Mittelmächte damals vielleicht auf der richtigen Seite der Geschichte? Kann Deutschland daher jetzt als europäischer Schulmeister auftreten? Was bedeutet die Aussage, dass die Politik der Aufteilungen gegenüber dem Osmanischen Reich „keine Friedensordnung“ schuf? Soll damit angedeutet werden, dass die Krisenlösung heute an die Verhältnisse vor den Grenzbildungen im Nahen und Mittleren Osten anknüpfen soll? Auf jeden Fall gibt es ganz real eine irritierende Entwicklung: Unter deutscher Führung ist die Europäische Union dabei, ein strategisches Bündnis mit der Türkei zu schließen. Mit einer Türkei, die deutlich hegemoniale Ziele in der Region anstrebt. Sind wir also dabei, erneut in die „osmanische Sackgasse“ zu schlittern?
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Eine suggestive Story – Zu Beginn seines Artikels führt uns der FAZ-Autor, Rainer Hermann, in die Downing Street 10 „am Morgen des 16. Dezember 2015“. In Anwesenheit des britischen Premierministers und dreier weiterer Kabinettsmitglieder sollte Mark Sykes erläutern, wie ein Deal zwischen Briten und Franzosen aussehen könnte. Und da habe Sykes „seinen Zeigefinger über die Karte, die vor ihnen auf dem Tisch lag, gezogen“ und folgenden Satz gesprochen: „Ich meine, wir sollten die Linie von dem `e´ in Acre bis zum letzten `k´ in Kirkuk ziehen.“ Das war eine Linie von der Mittelmeerküste bis zur östlichen Grenze Mesopotamiens. Diese Linie bildet in der Tat noch heute einen Teil der Grenze zwischen dem Irak und Syrien. Es ist ein suggestives Bild, das diese Einleitung zeichnet. Ein paar noble Herren ziehen mit imperialer Geste ihre Striche auf der Landkarte. Hermann lässt keinen Zweifel, dass es darum gegangen sei „zu bestimmen, welche Provinzen sich Großbritannien einverleiben solle“. Und dann macht der Autor von der Szene im Dezember 2015 einen schnellen Sprung über ein ganzes Jahrhundert: „Bis zum 3.Januar 1916 einigte er (Sykes) sich mit Picot auf die Aufteilung der osmanischen Beute mit Frankreich und damit auf die Grenzen die Grenzen der Staaten in der Levante, die bis zum heutigen Tag Bestand haben. Am 16. Mai unterzeichneten der britische Außenminister Edward Grey und der französische Botschafter in London, Paul Cambon, die Vereinbarung, die wie keine andere in der Neuzeit die Geschichte des Nahen Ostens prägen und beeinflussen sollte.“ Für den FAZ-Autor steht fest, dass hier eine imperiale Logik („einverleiben“) am Werk ist. Die Möglichkeit, dass mit dem Ende des Osmanischen Reiches ein neuer Prozess zunehmend unabhängiger Staatenbildungen begann, wird nicht mal angedeutet.
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Ein Blick auf die Landkarte – Ein genauerer Blick auf eine Kartenskizze (s.u.), die in dem Artikel der Berliner Zeitung (Quellenhinweis AFP) veröffentlicht wurde, zeigt, dass die heutigen Grenzen im Nahen Osten nur zu einem kleinen Teil wirklich mit den Grenzlinien von Sykes-Picot deckungsgleich sind. Der historische Prozess der wachsenden Unabhängigkeit hat die territoriale Ordnung nochmals modifiziert.
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Geschichte, die übergangen wird – Ein erstaunlicher Zeitraffer ist in den Gedenk-Artikeln am Werk. Sie erzählen viel von 1916 und machen dann einen großen Sprung in unsere Gegenwart. Was dazwischen geschah, erscheint als bloße Fußnote – obwohl es um ein ganzes Jahrhundert geht. Das ist eigentlich recht geringschätzig und lieblos gegenüber einer großen Region dieser Welt. Für die Autoren der beiden Artikel, die an anderer Stelle schon sehr kenntnisreich über die Region berichtet haben, ist das eine merkwürdige Verkürzung der Realität. Da hilft vielleicht eine kleine Liste von Vorgängen, die im Zeitraffer verschwunden sind.
- Syrien wurde, zusammen mit dem Libanon, in den 1920er Jahren als Mandatsgebiet des Völkerbundes an Frankreich übertragen. 1946 wurde es unabhängig. Der Libanon erhielt 1926 seine Eigenstaatlichkeit und 1943 die volle Unabhängigkeit (er war Gründungsmitglied der Vereinten Nationen). Der Irak wurde ab 1921 zum Königreich Irak, dann ab 1958 zur Republik. Zu einer „Einverleibung“ durch Frankreich oder Großbritannien kam es also gar nicht.
- Es gab in den 1950er Jahren verschiedene Versuche grenzüberschreitender Zusammenschlüsse: Irak und Jordanien („Arabische Föderation“); Syrien und Ägypten („Vereinigte Arabische Republik“). Sie wurden nach kurzer Zeit wieder getrennt. Die Grenzen erwiesen sich als dauerhafter als der Panarabismus. Zugleich fand der verheerendste Krieg im Nahen Osten (der Iran-Irak-Krieg) an einer Grenze statt, die viel älter ist als die Sykes-Picot-Linien.
- Alle Staaten des Nahen Ostens können im Jahrhundert-Rückblick erhebliche Fortschritte beim Bruttoinlandsprodukt und bei den Infrastrukturen aufweisen. Aber die Bevölkerungsentwicklung lief noch schneller und entkoppelte sich besonders in den letzten Jahrzehnten: Syrien 1,5 Mio (1918) – 2,5 Mio (1938) – 6,3 Mio (1970) – 20,9 Mio (2010); Irak 6,7 Mio (1957) – 12,0 Mio (1977) – 22 Mio (1997) – 29,6 Mio (2010).
Diese Realitäten sprechen nicht für eine Geschichtsschreibung, die das gesamte Jahrhundert seit 1916 als Irrweg für den Nahen und Mittleren Osten wertet. Es spricht eher dafür, auf dem errungenen Staatenpluralismus aufzubauen und die Souveränität der Staaten als Schlüssel für mehr Selbstverantwortung zu verteidigen.
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„Künstliche“ Staaten und „natürliche“ Staaten – Hingegen zeigt der Schluss des Artikels von Rainer Hermann, in welches Rückwärtsszenario die Legende von der europäischen Urschuld führt. Der Schlussabsatz ist es wert, zur Gänze zitiert zu werden: „Diese Gebiete (Hermann schreibt vorher von den „Kunststaaten“ Syrien, Irak und Jordanien, GH) waren unter osmanischer Herrschaft relativ friedlich gewesen. Die Osmanen hatten durch eine kleinteilige Aufteilung des Gebiets Konflikten vorgebeugt, die entstehen, wenn viele unterschiedliche Gruppen in einem Staat zusammenlebten. Zudem wurden die kleinen Einheiten effizienter verwaltet. Die Kolonialmächte hatten das nicht begriffen: Sie legten drei osmanische Provinzen zusammen und nannten das Gebilde dann Irak. Drei andere Provinzen hießen nun Syrien, ohne dass es solche Nationen gegeben hätte. Um diese künstliche Gebilde zusammenzuhalten, bedurfte es erst der Kolonialstaaten, dann repressiver Diktaturen. Als diese wegfielen, stürzte die Region in Krieg und Chaos. Der Westen versucht zwar, die alte Ordnung in den hundert Jahre alten Grenzen zu retten. Eine neue, stabile Ordnung, die an Sykes-Picot anknüpfen könnte, zeichnet sich aber nicht ab.“
Damit endet der Artikel in der FAZ. Der Leser fragt sich: An was soll denn dann angeknüpft werden? Zurück zur Osmanischen Reichsordnung? Sollen die Nationalstaaten Syrien, Irak, Jordanien wirklich aufgelöst werden, weil es keine historischen Vorläufer-Nationen gegeben hat? Wo im Nahen Osten oder in Nordafrika hat es solche präexistenten Nationen gegeben? Und fällt nicht auch ein großer Teil Europas unter das Verdikt „Kunststaaten“, weil diese Staaten sich aus „unterschiedlichen Gruppen“ zusammensetzen und keine „natürlichen“ Grenzen haben? Fragen über Fragen – wenn man den Schritt der Grenzziehung durch Sykes-Picot pauschal verurteilt, gerät man in das Dilemma, dass man gar keine legitimen Grenzen benennen kann. Der Schlusssatz zeigt, dass Hermann nur eine Negativargumentation zustande bringt.
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„Kunststaat“ Israel? – Und noch eine Frage wird durch die neue Urschuld-Legende brisant: Wie steht es um die Legitimität Israels? Zu den Grenzziehungen, die im Gefolge des Abkommens von 1916 erfolgten, gehörte auch das Territorium Palästina, das unter eine gemeinsame britisch-französische Verwaltung gestellt wurde. Insofern schuf das Sykes-Picot-Abkommen eine Voraussetzung dafür, dass nach dem zweiten Weltkrieg der Staat Israel gegründet werden konnte. Zwar geht der Staat Israel nicht unmittelbar auf die englisch-französische Zonierung von 1916 zurück – wie es auch nicht die heutige Türkei, der Irak, Syrien, der Libanon oder Jordanien tun. Aber das Abkommen hat doch einige Vorbedingungen geschaffen, damit der Staat Israel möglich wurde. Auch das gehört zur guten Staatenpluralisierung im Nahen und Mittleren Osten – und wird bis heute von etlichen arabischen Staaten nicht anerkannt. Wie soll man vor diesem Hintergrund die neue Fundamentalkritik in deutschen Zeitungen verstehen? Welche territoriale Sicherheit kann Israel haben, wenn allen Trennungen, die sich irgendwie auf Sykes-Picot zurückführen lassen, die Legitimität abgesprochen wird?
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Sykes-Picot in positiver Perspektive – Eine Friedensordnung im Nahen Osten kann nur von einem Pluralismus souveräner Staaten getragen werden. Der Beginn dieses Pluralismus ist historisch mit Sykes-Picot verbunden – nicht im Sinn einer damals schon bestehenden „roadmap“, sondern als Zwischenschritt in einem längeren historischen Prozess. Das Abkommen hat den Unabhängigkeitsbewegungen und der Bildung eigenverantwortlicher Staaten das Terrain eröffnet – auch wenn das vielleicht gar nicht in der Absicht von Mister Sykes und Monsieur Picot gelegen hat.
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Postscriptum: Der „Islamische Staat“ lässt grüßen – Der Artikel in der Berliner Zeitung argumentiert ähnlich wie der FAZ-Artikel, aber ein Unterschied muss fairerweise hervorgehoben werden. Der Autor, Martin Gehlen, berichtet zu Beginn von einem Auftritt des „Islamischen Staates“. Mitten in der syrisch-irakischen Wüstenregion schieben Dschihadisten des IS mit einem gelben Bulldozer Kontrollposten und Sandbarrieren beiseite. Zu diesen Bildern, die vor einiger Zeit in alle Welt geschickt wurden, twittern jubelnde Kämpfer „Wir zerschmettern Sykes-Picot“. Diese Seite der Medaille sollte man nicht übersehen: Die Schuldlegende von 1916 bildet ein Kernelement der IS-Propaganda.