Tichys Einblick
HELDS AUSBLICK – 2022/6

Erdgas – Über einige harte Realitäten

Es gibt die Forderung, das Import-Embargo gegen Russland auf das Erdgas auszudehnen. Und zugleich sieht man sich gezwungen, um jeden Preis fossile Energieträger zu beschaffen, weil sich deren Unverzichtbarkeit herausstellt.

Gastank in Bonn; 94 Prozent des hierzulande verbrauchten Erdgases müssen importiert werden

IMAGO / Future Image

Diejenigen, die für einen Wirtschaftskrieg gegen Russland und für die Aufrüstung der Ukraine zum Frontstaat plädieren, erwecken den Eindruck, besonders „realistisch“ und „ernst“ zu sein. Hingegen sollen die Kritiker solcher Maßnahmen naive Pazifisten und Wegbereiter für Putins Weltherrschaftspläne sein. In Wirklichkeit sind es die Wirtschaftskrieger, die den Ernst der Lage verkennen. Ihre Rede ist im Grunde grob leichtfertig. Mit jedem Rohstoff oder Rohprodukt, das sie auf die Handelsboykott-Liste setzen, erhöhen sie die Gesamtkosten der deutschen Volkswirtschaft und setzen die Wertschöpfung aufs Spiel. Sie zerstören auch nachhaltig das Band des internationalen Handels und das gemeinsame Interesse der beteiligten Länder an friedlicher Entwicklung. Mehr noch: Sie setzen den bürgerlich-zivilisatorischen Weltbezug aufs Spiel, der das Markenzeichen der Moderne ist. Und der auch das wichtigste Gegengewicht gegen alle destruktiven Tendenzen ist, die es in dieser Welt gibt.

Dieser (selbst-)zerstörerische Leichtsinn ist nicht nur ein Merkmal der Eskalation der Ukrainekrise, sondern auch anderer maßloser Reaktionen auf Gefahren. Es ist ein Merkmal unserer Zeit, dass begrenzte Krisen immer gleich als terminale „Weltkrisen“ verstanden werden – und dass dann die Rettung in radikalen Zivilisationsopfern gesucht werden.

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Da gibt es die immer weiter wuchernde „Migrationskrise“: Sie entstand, als man alle Migration zu Fluchtmigration erklärte, sodass sie nicht mehr durch Übereinkunft zwischen Herkunftsländern und Zielländern geregelt und begrenzt werden konnte, sondern unter ein globales, unbegrenztes Rettungsgebot gestellt wurde. Und ganz ähnlich wuchert – auf einem noch fundamentaleren Feld – die „Klimakrise“, bei der einzelne Schwierigkeiten, die sich aus dem Klimawandel ergeben, zu einer terminalen „Überhitzung des Planeten durch den Menschen“ überhöht wurden. Und daraus leitete man das zwingende Gebot zur „Klimarettung“ durch substanzielle Zivilisationsopfer ab.

Und nun also der Waffengang in der Ukraine, der eigentlich den Wert friedlicher Koexistenz und den Wert zivilisatorischer Errungenschaften vor Augen führen könnte. Und der den Versuch nahelegt, die militärische Auseinandersetzung einzuhegen. So gibt es Stimmen, die vor den Folgen eines allgemeinen Wirtschaftskrieges warnen, insbesondere vor einem Zivilisationsopfer im Bereich „Energie“ und „Nahrungsmittel“. Und man lernt ganz praktisch im Schnellverfahren, in wie vielen produktiven Zusammenhängen ein fossiler Energieträger wie das Erdgas eine Schlüsselrolle spielt. Und wie unersetzbar er auf absehbare Zeit ist. Das stellt natürlich auch die Einschnitte im Rahmen der „Klimarettung“ in Frage. Doch für eine so ernste Konsequenz ist wohl zu früh. Im Moment überwiegt noch das eifrige Bemühen, die „Unabhängigkeit von Russland“ und die „Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern“ als einen einzigen großen Freiheitskrieg darzustellen. Was kümmert die Ritter der Unabhängigkeit die physisch-technische Realität dieser Welt und dieses Landes.

Dabei ist das Gas-Thema wie geschaffen für eine Rückkehr zur aufklärerischen Vernunft.

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Warnungen vor einem Gasimport-Embargo – Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) veröffentlichten Mitte April 2022 eine gemeinsame Erklärung zur Frage eines Gasembargos gegen Russland. Dort heißt es: „Ein schnelles Gasembargo hätte in Deutschland Produktionsausfälle, Produktionsstillstand, eine weitere Deindustrialisierung und nachhaltige Arbeitsplatzverluste zur Folge … Die negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung wären momentan in Deutschland höher als die in Russland.“

Das ist eine sehr weitgehende Gefahrenbeschreibung, in der auch von „Deindustrialisierung“ die Rede ist. Und es ist ein bedeutsamer Schritt, dass diese Stellungnahme von Arbeitgeber-Verbänden und Gewerkschafts-Organisationen gemeinsam abgegeben wurde. Ist das die Übertreibung einer „Industrielobby“, der es nur um egoistische Interessen geht? Das kann nur behaupten, wer die stofflich-technischen Produktions-Zusammenhänge ignoriert, die beim Erdgas in verschiedenen Branchen außerordentlich weitreichend sind. Mit einem Ausfall des Erdgases würde ein tragendes Element in vielen Wertschöpfungsketten ausfallen. Viele Güter des täglichen Bedarfs würden sich erheblich verteuern, verschlechtern oder ganz ausfallen. Wichtige Produktionsschritte würden viel aufwendiger werden oder gar nicht mehr lösbar sein – zum Beispiel für die Haltbarkeit von Lebensmitteln oder die Arzneimittel-Sicherheit.

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Erdgas in der Wertschöpfungskette, das Beispiel BASF – Bereits im März 2022 hat der deutsche Weltkonzern BASF erklärt, dass es nicht erst bei einem totalen Erdgas-Ausfall, sondern schon bei einer deutlichen Mengen-Einschränkung dazu kommen würde, dass der Konzern zu einer Produktions-Drosselung wichtiger Basischemikalien und Folgeprodukte gezwungen wäre. Und davon würden wiederum alle nachgelagerten Kundenbranchen betroffen. Die weiterverarbeitende Industrie müsste „die Produktion vieler wichtiger Stoffe des täglichen Bedarfs“ einschränken. Die BASF führt das Beispiel der Produktion von Ammoniak an, das ein wichtiges Vorprodukt für Düngemittel ist: „Eine Reduzierung der Gasversorgung in Deutschland würde die Knappheit an Düngemitteln weltweit weiter verschärfen, die Nahrungsmittelproduktion reduzieren und die Preise für Grundnahrungsmittel weiter steigen lassen.“ Ähnliche Folgewirkungen sieht die BASF bei einer Reduktion der Acetylen-Produktion, das ebenfalls ein bedeutender Ausgangsstoff für viele Güter des täglichen Lebens ist – für Kunststoffe, Arzneimittel, Lösemittel oder Textilfasern (Angaben aus einem Artikel der FAZ vom 29. März 2022).

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Von wegen Arbeitsplatz-Egoismus – Erst vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung deutlich, die die drohenden Arbeitsplatz-Verluste in den großen Chemiekomplexen in Deutschland haben. In dem hier zitierten FAZ-Artikel nennt Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), der auch Aufsichtsratsmitglied der BASF ist, eine wichtige Zahl: Bei einer Gasversorgung unter 50 Prozent könnte ein Verbundstandort wie Ludwigshafen – wo fast 40.000 Menschen arbeiten – nicht mehr stabil gefahren werden. Er müsste deshalb ganz heruntergefahren werden. Damit würden viele Menschen Arbeit und Brot verlieren – das ist schon schlimm genug. Aber zugleich würde der ganze Produktivitätsverbund kaputtgehen, mit nachhaltigen Folgen für die Wertschöpfung der gesamten deutschen Volkswirtschaft – das Gesamtspektrum der verfügbaren und bezahlbaren Güter würde enger werden. Wer die stofflich-technischen Zusammenhänge des menschlichen Arbeitens und Lebens ignoriert und nass-forsch zum Wirtschaftskrieg ruft, bürdet dem Land immense Folgekosten auf.

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Was die Handelsstatistik nicht abbilden kann – In einem Artikel von Mark Fehr in der FAZ vom 31. März 2022 wird dargestellt, welche Bedeutung die Stoffe Erdöl und Erdgas in der Kunststoffbranche haben, und wie sich dies in der ganzen Wertschöpfungskette niederschlägt.

„Der Weg vom Rohstoff zum Endprodukt läuft in der Kunststoffbranche grob gesagt in drei Stufen: Erdöl und Erdgas werden in Grundstoffe wie Ethylen oder Benzol umgewandelt. Diese Grundstoffe werden zu Kunststoffen wie Polyethylen, Polypropylen oder Polyamid veredelt, die für die Herstellung unterschiedlichster Kunststoffprodukte verwendet werden. 50 Millionen Tonnen Kunststoffprodukte werden jedes Jahr in Europa hergestellt.“

Und dann fügt der Autor eine interessante Bemerkung hinzu: „Die unvorstellbar breite Palette dieser Anwendungen zeigt, dass Russland und die Ukraine eine Schlüsselrolle für die westliche Wirtschaft spielen, obwohl das Volumen der Importe und Exporte auf den ersten Blick überschaubar aussieht.“

Das ist eine wichtige Erkenntnis. Wer nur die pauschalen Größen von Umsatz, Bruttoinlandsprodukt oder Import/Export betrachtet, kann nicht erkennen, welche strategische Schlüsselstellung bestimmte Stoffe und Vorprodukte haben. Sie wird erst wirklich deutlich, wenn diese Dinge auf einmal nicht mehr zur Verfügung stehen. Hier geht es um eine Härte physisch-technischer Realitäten, die nicht durch Geld – und auch nicht durch Wissen – aus der Welt zu schaffen ist. Gewiss ist Wissen wichtig, und Geld ist es auch. Aber so wenig man sich mit Geld alles beschaffen kann, gibt es für jede Knappheit ein Wissen, das sie beseitigen kann.

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Das Ministerium rechnet – In der FAZ vom 27. April 2022 wird davon berichtet, dass nach Ausrufung der „Frühwarnstufe Gas“ im Bundeswirtschaftsministerium und in der Bundesnetzagentur „viel gerechnet“ wird:

„Welches Unternehmen braucht wie viel Gas wofür? Welche Folgen hätte es in anderen Branchen, wenn der Chemiekonzern BASF in Ludwigshafen mangels Gas wichtige Grundstoffe nicht mehr herstellen kann? Oder Thyssenkrupp keinen Stahl mehr? Selbst in scheinbar kleinen Branchen können große Risiken lauern – etwa bei Spezialglasherstellern: Gemessen am Umsatz fallen sie kaum ins Gewicht. Doch gingen dort die Öfen aus, bekämen bald Autohersteller und Pharmakonzerne Probleme. Ohne Windschutzscheiben und Ampullen können sie nicht produzieren.“

Es geht um Ausfallrisiken. Erdgas steckt in vielen Dingen drin. Deshalb sind die Ausfallrisiken weitverzweigt. Und Erdgas ist nur schwer durch andere Energieträger zu ersetzen. Ein Ersatz, wenn er denn überhaupt existiert, kann weniger leistungsfähig sein und daher erhebliche Produktivitätsverlust mit sich bringen. Mit anderen Worten: Ein in Umsatzzahlen (Geldwert) relativ kleiner Faktor, kann stofflich-technisch eine viel größere Bedeutung haben. Wert und Wichtigkeit sind nicht identisch. Da fragt man sich natürlich, wie das Wirtschaftsministerium das alles errechnen will. Rund um das Erdgas gibt es unzählige, qualitativ verschiedene Wirkungen und Wechselwirkungen. Das kann man flächendeckend gar nicht beherrschen. Das „Rechnen“ wird Knappheiten an Stellen erzeugen, mit denen es gar nicht gerechnet hat. Es wird zu einer Zwangsbewirtschaftung führen. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland wird die an ihm beteiligten Länder an den Rand einer Kriegswirtschaft führen.

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Ein Erdgas-Embargo auf ewig? – Der Krieg in der Ukraine wird ja nicht ewig dauern, hört man. Aber der Westen hat den begrenzten Konflikt in der Ukraine ja in eine fundamentale Russland-Feindschaft gesteigert. Und er will eines der größten Energielieferländer der Welt – besonders Europas und ganz besonders Deutschlands – in die Knie zwingen.

Wie will man von diesem Kurs herunterkommen? Aber will man das überhaupt? Steht hinter dem Leichtsinn des Gaskrieges und den provisorischen „Lösungen“ (mit Flüssiggas-Terminals) nicht noch eine viel fundamentalere Verabschiedung des Erdgases? Ja, denn es gibt hierzulande längst einen Feldzug gegen die fossilen Energieträger wegen ihrer angeblich „klimazerstörenden“ CO2-Emissionen. Hier will man lieber heute als morgen den Energieträger Erdgas ausschalten. Selbst wenn die Russland-Begründung fortfallen sollte, stände der BASF-Komplex (und die ganze „böse“ Chemieindustrie) vor dem Aus.

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Der Feldzug gegen die Chemieindustrie geht ungebremst weiter – Noch einmal zurück zur BASF: Auf der Hauptversammlung Ende April 2022 hat der Vorstandsvorsitzende Martin Brudermüller nachdrücklich vor einem deutschen Gas-Embargo gegen Russland gewarnt. Die FAZ vom 30. April 2022 berichtete, dass Brudermüller die Lage der Chemiebranche auch ohne drohendes Gasembargo als sehr schwierig beschrieben habe.

„Die enorm hohen Energiepreise setzen der energieintensiven Chemiebranche derart zu, dass Brudermüller zu historischer Einordnung griff. Den – auch für ihn unstrittigen – Green Deal der EU-Kommission unter derart schwierigen Umständen umzusetzen sei beispiellos: ‚Es wird unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit auf die härteste Probe in ihrer Geschichte stellen‘. Die Tücken stecken im Detail: Das neue Chemikaliengesetz aus Brüssel werde vermutlich 12000 chemische Produkte betreffen, das seien 45 Prozent aller Stoffe überhaupt. Viele davon würden unter ein Verbot fallen.“

Hier wird deutlich, dass es ein ganz anderes, tieferes Problem gibt als die Auseinandersetzung mit Russland. Die Chemieindustrie steht unter einem existenzbedrohenden Gesetzesdruck von Seiten der EU, die zu erheblichem Mehraufwand der Produktion, zu Verteuerungen, zu einer verringerten Wertschöpfung und auch zum Ausfall von Produkten führen wird. Ein Teil wird mit der „Klimarettung“ legitimiert, ein anderer Teil mit anderen Umweltanliegen. Offenbar wurden diese Gesetzesauflagen ohne Rücksicht auf die Wertschöpfung der Chemieunternehmen und auf die Verteuerung der Produkte. Während die EU auf der einen Seite die Preissteigerungen beklagt und Linderung verspricht, ist sie selber einer der Haupt-Preistreiber. Sie will, dass die Dinge teurer werden. Das ist ihre Preis-Revolution.

Es ist bemerkenswert, dass der BASF-Vorsitzende, der so entschieden vor den Folgen eines Gas-Embargos gegen Russland warnt, andere belastende Entscheidungen nicht in Frage stellt. Dabei wäre es doch eigentlich logisch, wenn alle belastenden neuen Chemie-Gesetze auf den Prüfstand kommen und – in einem Moratorium – vorläufig außer Kraft gesetzt werden.

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