Tichys Einblick
Helds Ausblick – 8/2023

Gefangen im Hin und Her

Deutschland ist auf einem Kurs, der immer größere Opfer fordert. Die Opferbereitschaft der Bürger sinkt. Doch eine Abkehr von den falschen Zielen, die das Land auf diesen Kurs gebracht haben, steckt erst in den Anfängen.

IMAGO / photothek

Ist Deutschland an einem „Kipppunkt“? Manches scheint darauf hinzudeuten. Die Meinungsumfragen zur politischen Stimmung in Deutschland zeigen einen starken Vertrauensverlust für die Regierenden. Die Kritik macht sich fest an einzelnen krassen Fehlleistungen wie dem „Heizungsgesetz“. Sie ist oft sehr heftig, was bestimmte Personen und Parteien betrifft. Sie wird bestärkt durch die wirtschaftliche Rezession in Deutschland. Allerdings reicht dieser Vertrauensverlust noch nicht so tief, wie man angesichts der Umfragen glauben könnte.

Die großen Ziele, die den jetzigen Kurs des Landes bestimmen, werden noch kaum in Frage gestellt. So gibt es im Vertrauensverlust eine schwerwiegende Lücke: Zwischen den Opfern und den großen Zielen wird noch keine Verbindung hergestellt. Die Ziele gelten „an sich“ noch als gut und alternativlos, während die Opfer bloß als „Murks“ bei der Umsetzung angesehen werden. Deshalb ist das Land in diesem Herbst 2023 weit davon entfernt, seinen Kurs zu korrigieren. Es ist hin und her gerissen zwischen Vertrauensverlust und fortbestehendem Vertrauen. Die Mehrheit der Bürger schwankt zwischen der Ablehnung von Maßnahmen, deren zerstörerische Wirkung sie ganz handfest spüren, und dem Glauben an ein Weltdrama, in dem große Bedrohungen nur durch große Opfer gelöst werden können.

Eine Abwägung von Opfern und Zielen, die zu dem Schluss führen könnte, dass die Ziele die Opfer nicht wert sind, kommt so gar nicht zustande. So bleibt das Land in einem Drama gefangen, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Die Lage ist also noch nicht reif für einen Richtungswechsel. Aber man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, den Deutschen irgendeine besondere moralische Schwäche anzudichten. Vielmehr sollte man verstehen, dass es nicht leicht ist, das Szenario der ultimativen Bedrohungen und letztmöglichen Rettungen hinter sich zu lassen.

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Wie „unsere Klimaziele“ zu einer unanfechtbaren Macht wurden Die „Klimapolitik“ zeigt exemplarisch diese Gefangenschaft. In ihrem Namen erfolgen die tiefen Eingriffe in Produktionsenergie, Verkehr, Heizung, die die Bürger als Angriff auf ihre Existenz ansehen. Diese Eingriffe werden gerechtfertigt, indem ein globaler „Klimakollaps“ als eine so große und so akute Gefahr beschworen wird, dass alle Opfer vergleichsweise gering erscheinen. Zugleich wird eine große Rettung in Gestalt der „erneuerbaren Energien“ in Aussicht gestellt, die angeblich zum Greifen nahe ist – wenn man nur mit höchstem Tempo Windräder, Wärmepumpen etc. baut.

Dann, so wird weiter versprochen, werden wir ein neues Wirtschaftswunder wie nach dem 2. Weltkrieg erleben, den sogenannten „Green Deal“. Und da dies Wunder nur von unserem Willen („ehrgeiziges Ziel“) abhängt, können wir den Übergang mit einer Sonderverschuldung (einer Art Kriegsanleihe) bewältigen, die einfach vorgreifend als „Sondervermögen“ verbucht wird. Mit diesen Bausteinen wurde ein gewaltiges, geschlossenes Szenario konstruiert, aus dem es kein leichtes Entrinnen gibt.

Mit der Klimapolitik wurde in Deutschland ein System von Zielen installiert, das wie eine Art zweite Verfassung funktioniert. Dies System steht außerhalb jeder Abwägung mit anderen Aufgaben und Rechtsgütern. In der politischen Rede wird die Formel „Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir …“ inzwischen wie ein Mantra heruntergemurmelt. Man geht davon aus, dass niemand es wagt, „unsere Klimaziele“ in Frage zu stellen. Dabei reicht die Kombination von größtmöglicher Bedrohung und größtmöglicher Rettung so weit ins Spekulative, dass sie im Grunde gar nicht widerlegbar ist.

Wenn der gesunde Menschenverstand einwendet, man brauche für einen so komplexen Gegenstand wie dem Weltklima eine viel umfangreichere und längere Forschung, und auch bei den erneuerbaren Energien müsse man erst langsam Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit und Stabilität dieser Technologie machen, wird ihm ein atemloses „Wir haben keine Zeit! Es ist eigentlich schon zu spät!“ zugerufen. Wer darauf verweist, dass in der Wende-Hast gut funktionierende Betriebsanlagen, Kraftwerke, Fahrzeuge und Heizungen zum alten Eisen geworfen werden und eine gigantische Wertvernichtung stattfindet, wird auf die goldene Subventions-Brücke verwiesen, die alle Verluste bezahlbar macht – auf Pump.

So zeigt das Klima-Drama exemplarisch, was den jetzigen Kurs des Landes im Innersten zusammenhält. Die Kombination aus finstersten Bedrohungen und sonnigsten Rettungen macht die Welt zu einem Schauplatz der Zwänge. Die immensen Opfer sind keine „Fehler“, sondern ergeben sich ganz logisch aus diesem Szenario. Solange dies Szenario nicht in Frage gestellt wird, findet der Opfergang dieses Landes kein Ende.

Aber der Ausstieg aus diesem Zwangsdrama, kann nicht als ein schnelles „Kippen“ geschehen, sondern nur als ein allmählicher, zäher Erfahrungsprozess. Die Behauptung, dass wir mit der Klimapolitik auf einem guten Weg sind und die Opfer allmählich weniger werden, lässt sich nicht theoretisch entkräften, sondern nur durch die realen Erfahrungen mit dem Opfergang. Ebenso lässt sich die Behauptung, dass wir vor einem Klimakollaps stehen, auch nur durch die Erfahrung entkräften, dass trotz extremer Wetterereignisse das Leben weitergeht.

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„Regieren am Limit“ (I) Am Montag, den 11. September 2023 präsentierte die ARD zur besten Sendezeit einen Film mit dem Titel „Ernstfall – Regieren am Limit“. Im Vorstellungstext der ARD heißt es: „Die deutsche Regierung unter Olaf Scholz kämpft in Zeiten des Krieges in Europa mit großen Herausforderungen wie der Unterstützung der Ukraine, der Sicherstellung der Energieversorgung, der Bekämpfung der Inflation und der Klimakatastrophe.“

Der Film war kein Fernsehspiel aus der Welt literarischer Phantasie, sondern wurde dem Publikum unter der Bezeichnung „Dokumentarfilm“ präsentiert. Wie selbstverständlich ist hier vom „Krieg in Europa“ oder der „Klimakatastrophe“ die Rede – als wäre so ein Krieg und so eine Katastrophe bereits eingetreten. Und der Kanzler „kämpft“. Das ist Notstands-Sprache, obwohl ein solcher Notstand gar nicht parlamentarisch-demokratisch festgestellt wurde, wie die Gesetze dieses Landes es fordern.

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„Regieren am Limit“ (II) Wetterextreme, Hungersnöte, Epidemien, Militärinterventionen sind zunächst einmal begrenzte Krisen. Aber in unserer Zeit herrscht eine fatale Neigung, begrenzte Krisen zu fundamentalen Weltdramen zu steigern, die dann von einem Punkt aus gelöst werden sollen. Ausschaltung der fossilen Energieträger, Asylrecht in Europa als Antwort auf die Krisen des „globalen Südens“, Beschwörung eines neuen Verdrängungskampfes zwischen einem „Reich der Freiheit“ und einem „Reich der Autokraten“. Wo früher eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Systeme als Ordnungsprinzip vorstellbar war, gibt es nur noch ein „Wir oder Sie“. Wo es früher selbstverantwortliche Nationen gab, wird heute ein „Menschenrecht“ auf willkürliche Grenzüberschreitung installiert. So werden die Räume der Welt eng gemacht.

Zugleich werden die Zeiten der Welt dramatisch verkürzt. Überall regiert die Vorstellung, dass wir eigentlich keine Zeit mehr haben für langsame Entwicklungen – weil wir „terminalen“ Katastrophen „zuvorkommen“ müssen. Überall werden die Uhren auf „5 vor 12“ gestellt. Wir befinden uns in einer Art Wettlauf mit einer ablaufenden Zeit. Und daraus wird dann gefolgert: Lieber jetzt ein heftiger, schmerzvoller Eingriff – und dann haben wir es geschafft. So sind absurde Fristen für die Durchsetzung einer „Klimaneutralität“ beschlossen worden. Auch die „Null-Covid-Politik“, die zeitweise in Deutschland gefordert wurde, war von dieser Bauart: ein radikaler Lockdown und dann sollte die Gefahr ein für alle Mal vorbei sein. Und in der Ukraine-Krise gibt es die Neigung zu einer „Null-Russland-Politik“: Erst wenn Russland militärisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell völlig zu Boden geworfen wird, sollen wir wieder ruhig schlafen können.

So werden die Räume und Zeiten dieser Welt eng gemacht. Und diese Verengung der Welt, die man selbst täglich fabriziert, wird dann als „Regieren am Limit“ bezeichnet – als wäre das Limit vom Himmel gefallen.

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„Regieren am Limit“ (III) Die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag ist immer eine Schlüsseldebatte, in der es – ob die Redner es wollen oder nicht – um die Lage der Nation geht. Am 6. September fand diese Debatte statt. Der Bundeskanzler hat einen „Stillstand“ im Lande beklagt und „eine nationale Kraftanstrengung“ gefordert. Ein „Mehltau“ habe sich über das Land gelegt: „Die Bürgerinnen und Bürgerinnen sind diesen Stillstand leid. Und ich bin es auch.“ Er hat also eine Beschleunigungsrede gehalten. Eine Schneller-Schneller-Rede.

Und der Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. September stößt ins gleiche Horn: „Die Koalition selbst müsste erst einmal einen Pakt schließen, um energisch in Angriff nehmen können, was sie sich vorgenommen hat.“ Die Liste der Vorhaben, „die nach Fortschritt und Tempo schreien“ werde lang und länger, ist dort zu lesen. Ist „mehr Tempo!“ wirklich das Gebot der Stunde? Soll etwa die „Klimaneutralität“ noch schneller umgesetzt werden? Sollen die Migrantenströme, die an der Südgrenze nicht aufgehalten werden, schneller in Europa verteilt werden? Soll die Ukraine angesichts einer stagnierenden Offensive schneller aufgerüstet werden?

Nein, etwas ganz Anderes wäre jetzt geboten. Die deutsche Nation braucht ein Innehalten, um den Weg, auf den sie sich begeben hat, zu überprüfen. Bestimmte Ziele, wie der Ausstieg aus den Basis-Technologien „Verbrennungsmotor und Verbrennungsheizung“ müssten aufgeschoben werden. Angesichts fundamentaler Unsicherheiten und einer schnell anwachsenden Kostenlawine wäre ein Moratorium bei der „Klimawende“ angebracht.

Doch der Kanzler will der Nation dies Innehalten zur Überprüfung der beschlossenen Ziele nicht gewähren. Er will in einer Zeit, in der zwar die Zweifel wachsen, in der aber ein großer Teil der Opposition die Ziele noch nicht in Frage stellen mag, die Reihen schließen. Er will den Bundestag auf seinen jetzigen Erkenntnis-Stand festnageln. Dazu dient der „Deutschlandpakt“.

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Die fortschreitenden Erfahrungen der Bürger In dieser Situation sollte die Opposition im Lande sich nicht allzu sehr auf eine schnelle Lösung konzentrieren. Die Stärke einer wirklichen Opposition im Lande kann nur auf den fortschreitenden Erfahrungen der Bürger beruhen – in der Bildung eines Erfahrungsschatzes, der aus einem ganz anderen Stoff ist als das ständige Dramatisieren, mit dem jetzt das Land regiert wird. Die wichtigste politische Auseinandersetzung findet – getreu der Devise „Die Wahrheit ist auf dem Platz“ – in der Lebenswirklichkeit dieses Landes statt. Der Bäckermeister, der vor laufender Kamera mit wenigen Worten Herrn Habeck und seine „Energieumlage“ demontierte, ist noch in guter Erinnerung.

Nur „auf dem Platz“ werden sich die gegenläufigen Erfahrungen häufen, die die Glaubwürdigkeit der Regierenden erschüttern. Dies wird von zwei Seiten geschehen: Auf der einen Seite werden hier immer größere Folgekosten der großen „Rettungen“ sichtbar werden. So ist die Deindustrialisierung schon zu einem verbreiteten Wort im Lande geworden. Auf der anderen Seite werden extreme Wetter-Ereignisse (es wird sie weiterhin geben) immer weniger als Beweis für eine akute „Klimakatastrophe“ überzeugen. Auf der einen Seite werden sich also die Eingriffe in Arbeit und Leben als folgenschwerer erweisen, als sie bisher dargestellt werden. Und auf der anderen Seite werden sich die Gegebenheiten unserer Welt als weniger empfindlich erweisen.

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Die abwägende Vernunft So wird sich die jetzige dramatische Übersteigerung von Drohung und Rettung relativieren. Um das zu erreichen, braucht die Opposition im Lande keine vorgefertigte Ideologie. Sie braucht auch keine große Geschichtserzählung, in der schon alles vorgezeichnet ist. Sie kann ihre Grundfrage bei jeder neuen Entwicklung von Neuem stellen: Stehen Ziele und Opfer noch in einem vernünftigen Verhältnis?

Aus diesem Abwägen kann sich dann eine politische Alternative herausschälen, die von der Beschwörung höchster Gefahren und umfassender Rettungen Abstand nimmt. Diese Alternative folgt einer anderen Logik: Es kann vernünftig sein, bestimmte Gefahren, Widrigkeiten, Krankheiten zu erdulden, wenn dadurch Freiheiten erhalten bleiben oder zusätzlich eröffnet werden. Ein Land, das jeder Gefahr aus dem Wege gehen will und das nach dem Gebot absoluter Reinheit und Sicherheit regiert wird, muss einen völlig unverhältnismäßigen Preis bei seiner Freiheit zahlen. In der Corona-Krise hat Deutschland sehr lange gebraucht, um sich aus der Gefangenschaft maximaler Schutzvorschriften zu befreien.

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Die Schwierigkeit der anstehenden Entscheidung Das alles hilft aber nur, wenn die Bürger eines Landes zu dem Punkt kommen, wo sie eine Entscheidung über den Kurs ihres Landes treffen können und wirklich treffen. Diese Entscheidung ist dann nicht nur eine bloße „Stimmung“ oder „Meinung“, sondern ein wohlerwogenes, gefestigtes Urteil, das auch nicht beim ersten widrigen Ereignis wieder umgeworfen wird. Das gilt insbesondere für eine Entscheidung, die nicht vom Rückenwind einer im Grunde günstigen Lage begleitet wird.

In Deutschland geht es nicht um jene kleineren und kürzeren Krisen, wie sie im Laufe der 1970er und 1980er Jahre auftraten und durch Parteienwechsel an der Regierung korrigiert werden konnten. Die Entscheidung, die jetzt ansteht, kann sich nicht auf eine rosige Zukunft mit unerhörten neuen Chancen berufen. Sie ist im Grunde eine Entscheidung für bescheidenere Ziele und Erwartungen. Eine defensive Entscheidung, die das Land aus einer opferreichen Sackgasse herausbringen will. Und die seine Ziele mit seinen begrenzten Kräften in Einklang bringen will.

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