Tichys Einblick
Helds Ausblick – 9/2022

Die Stunde der abwägenden Vernunft

Mit diesem Herbst 2022 beginnt eine längere Zeit, in der Deutschland mehr und mehr den Ernst seiner Lage zu spüren bekommt. Diese Lage kann nur gewendet werden, wenn die anvisierten Ziele und die zu erwartenden Opfer kritisch ins Verhältnis gesetzt werden.

Angesichts der nun unmittelbar bevorstehenden schweren Belastungen und der in immer weitere Ferne rückenden Lösungen wäre es dringend geboten, eine Bilanz zu ziehen. Eine Bilanz der Grundentscheidungen, die Deutschland in diese wirklich kritische Lage gebracht haben. Wir erleben eine immer einseitigere Verstrickung in die Ukraine-Krise und eine immer tiefer in Arbeit und Leben einschneidende „Energiewende“. Doch die Grundentscheidungen gelten als alternativlos. Sie stehen über jeglicher Abwägung von Zielen und Opfern. Das Reden von „der Klimakrise“ und „dem russischen Angriffskrieg“ hat inzwischen eine gewisse Monotonie bekommen. Ein offenes Beobachten der Entwicklung und ein Ausloten von Spielräumen für praktikable Lösungen findet nicht mehr statt. Der Öffentlichkeit werden nur extreme Bedrohungen und Feindbilder präsentiert. Unterhalb einer Abschaltung aller fossilen Energieträger und eines Endsieges über „Putins Russland“ gibt es keine Lösungen. Und die „großen“ Lösungen sind längst zweifelhaft geworden. Aber sie werden in diesem Herbst 2022 immer noch reflexhaft wiederholt. Es klingt als würden Staat, Wirtschaft und Kultur von einem Sprechautomaten regiert.

Aber es gibt da noch ein zweites Element der Regierungskunst dieser Tage: die „Hilfspakete“. Nein, sie sind nicht bloß Rhetorik. Es werden durchaus beträchtliche Summen bewegt. Die Regierung verteilt Zugangsscheine für Energie und Verkehrsmittel. Durch die Hilfspakete wird manche Härte der Preissteigerungen verringert, der Ernst der Lage erscheint in einem milderen Licht. Aber dieser Ernst der Lage besteht fort. Die „Entlastungen“ sind nur der untergeordnete Teil in einer großen Verzichts-Kampagne, bei der der Bürger sagen soll, wie er „sparen“ will. Eine Nation soll alles angeblich „Überflüssige“ streichen, und etwas ganz Wesentliches kommt gar nicht mehr vor: Was ist aus der Arbeitsleistung der Bürger geworden, für die das „Überflüssige“ ja eine Gegenleistung darstellt? Die Bürger haben ja schon geliefert und tun es täglich aufs Neue, doch werden sie nur noch als „Verbraucher“ behandelt. Ihr Vorleistungen wurden mit der Verkündung der „Zeitenwende“ einfach gelöscht. Die Hilfspakete sind also kein Korrektiv jener großen Richtungsentscheidungen, die den Ernst der Lage herbeigeführt haben. Diese Entscheidungen bleiben völlig ausgeblendet. Die Menschen sollen bloß nicht darüber nachdenken, wie ihr Land an diesen kritischen Punkt kommen konnte.
Und sie sollen bloß nicht anfangen, die Abwägungsfrage zu stellen: „Stehen die anvisierten Ziele und die dabei zu erwartenden Opfer in unserem Land noch in einem vernünftigen Verhältnis?“

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Die Energie-Verteuerung ist politisch gewollt (I) – Es lohnt sich, die Sprachwendungen näher zu betrachten, in denen die Teuerungswelle uns präsentiert wird. Man kann hier lernen, wie hohe Energiepreise in Deutschland zum wertvollen Ziel gemacht werden, dass über jeglicher Abwägung steht. Und wie die Wirkung hoher Preise verharmlos wird. Die extrem erhöhten Energiepreise sind uns nicht durch fremde Gewalt auferlegt. Sie sind die Folge von Entscheidungen in Deutschland. Sie sind politisch gewollte Preiserhöhungen. Dabei spielt die Zerstörung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland als neuer Eckpunkt unserer Außenpolitik eine Rolle, aber noch mehr die schrittweise Ausschaltung aller fossilen Energieträger im Zuge des Großprojekts „Klimarettung“. Hier wird Energie durch politische Auflagen und Abgaben fortschreitend verteuert. Es geht ausdrücklich darum, Treib- und Brennstoffe so teuer zu machen, dass Unternehmen und Haushalte sie sich immer weniger leisten können. Die Preise sollen also „prohibitiv“ werden, wie der Fachausdruck lautet: Prohibitive Preise versperren den Zugang zu einem Gut, weil sie schlicht zu hoch sind. Hier wird nicht ein Preis-Signal gegeben, sondern eine Preis-Mauer errichtet.

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Die sogenannten „ehrgeizigen Ziele“ – Das Mittel der CO2-Emissions-Bepreisung ist schon länger in der Diskussion. Im Laufe des Jahres 2021 wurde diese Bepreisung, die es für Kraftwerke und bestimmte Industrieanlagen schon gab, wurde eine starke Ausdehnung dieses „zweiten Preises“ gestartet. Er sollte auch für Gebäude und Straßenverkehr erhoben werden. Das war und ist hochumstritten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat sich, wie die meisten größeren Blätter in Deutschland, für diese Energie-Verteuerung positioniert. So konnte man vor einem Jahr im Wirtschaftsteil in einem Kommentar (Hendrik Kafsack, „Sozialer Emissionshandel“, FAZ 26.8.2021) folgendes lesen:
„Der zu Jahresbeginn eingeführte CO2-Preis für Benzin, Diesel und Heizöl hat in Deutschland zu einer heftigen Debatte über die sozialen Folgen geführt. Nun droht der von der Europäischen Kommission im Juli vorgeschlagene Emissionshandel für Gebäude und Straßenverkehr an der gleichen Frage zu scheitern. Doch führt an der Ausweitung des Emissionshandels kein Weg vorbei.“

Herr Kafsack hält die politische Energie-Verteuerung also für ein Gebot, an dem „kein Weg vorbei“ führt. Wie begründet er eine so absolute Aussage? Hier findet sich im Text eine erstaunlich kurz-angebundene Wendung:
„Wenn der Ausstoß von Gebäuden und Verkehr nicht mit einem Preis versehen wird, kann die EU ihre ehrgeizigen Klimaziele nüchtern betrachtet kaum erreichen.“

Es geht also um eigene „Ziele“ und nicht um eine von außen hereingebrochene Not. Die Frage, ob die Ziele die zu ihrer Erfüllung erforderlichen Opfer wert sind, wird gar nicht gestellt. Stattdessen soll das Wörtchen „ehrgeizig“ der Teuerungswelle höhere Weihen verleihen. Da gibt es kein Abwägen mehr..

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Die Energie-Verteuerung ist politisch gewollt (II) – Beim Ausdruck „Emissionshandel“ kann der Eindruck entstehen, dass es sich um eine marktwirtschaftliche Lösung handelt. „Der Markt“ soll die Energieverteuerung quasi naturwüchsig hervorbringen. Aber die Verteuerung entsteht nicht erst im Handel am Markt, sondern durch die politischen Vorgaben. Wenn Kafsack schreibt, dass der Ausstoß von Gebäuden und Verkehr mit einem Preis „versehen“ wird, beschreibt er eine solche Vorgabe. Die Teuerung entsteht durch Emissionszertifikate, die der Staat ausgibt und deren Erwerb für den Betrieb von Produktionsstätten, Gebäuden, Verkehrsmitteln verpflichtend ist. Der Handel dieser Zertifikate ist nur ein nachgeordneter Schritt, der Markt ist hier bloß ein Instrument. Er ist bloß der Knecht der Politik. Wenn es der Politik gefällt, kann sie den Preis bis ins Unbezahlbare steigen lassen – bis es keine Käufer für mehr gibt. An einem wirklichen Markt würden dann die Preise sinken, aber politisch gewollte Preise sinken nicht. Oder genauer: Sie sinken erst dann, wenn man die politischen Vorgaben durch politische Abwägung relativiert. Und wenn eine Demokratie den „ehrgeizigen Ziele“ ihre Unantastbarkeit nimmt.

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Höhere Spritpreise? Sollen sie doch einfach E-Autos kaufen! – Die zerstörerischen Folgen der Teuerung werden verharmlost. Derselbe Herr Kafsack schreibt in einem anderen Kommentar (FAZ, 18.5.2022):
„Die Lösung liegt auf der Hand. Die EU muss den Verbrauch von Heizöl, Benzin oder Diesel mit einem CO2-Preis versehen. Wer den nicht zahlen will, kann in eine neue Heizung oder die Dämmung der Wohnung investieren, ein E-Auto kaufen oder Bus und Bahn fahren.“
Man beachte den lässigen Tonfall: Wer den CO2-Preis nicht zahlen will, kann ja in eine neue Heizung investieren, ein E-Auto kaufen oder mit Bus und Bahn fahren. Wer das eine nicht zahlen will, kann doch einfach etwas anderes kaufen – bloß kostet es halt mehr. Es sind richtig große Investitionen (neue Heizung, E-Auto) oder es ist an vielen Orten gar nicht verfügbar (Bus und Bahn). Wie viel Geringschätzung für die Lebenswirklichkeit im Land spricht aus diesem Satz.

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Die Mär vom Bürger, der alles schultern kann – Der Satz ist kein einmaliger Ausrutscher, und Herr Kafsack ist persönlich gewiss kein besonders böser Journalist. Es geht um einen allgemeinen Trend. Eigentlich sollte man erwarten, dass die Wirtschaftsteile der Zeitungen, die sich als bürgerlich verstehen, angesichts einer Teuerungswelle von historischen Ausmaßen besonders aufmerksam für die Nöte der Betriebe und Haushalte sind. Aber nein, ausgerechnet gibt es eine Neigung, Entlastungsprogramme in Frage zu stellen und das sogar damit zu begründen, dass ein Sparsamkeitsdruck auf die Bevölkerung ausgeübt werden muss. Auch Autoren wie Heike Göbel, die sich als Liberale versteht, stößt in dieses Horn. Sie hat – zum Beispiel in einem Kommentar unter der Überschrift „Voreiliger Schockdämpfer“ in der FAZ vom 25.3.2022 – gegen die Entlastungsmaßnahmen der Regierung Stellung genommen. Und sie hat das nicht getan, um die tieferen Ursachen der Teuerung ins Visier zu nehmen, sondern sie kommt auf bizarre Weise auf die Erzählung von den Bürgern, denen es gut geht, zurück:

„Viele, wenn nicht gar die Mehrheit der nun begünstigten Bürger, dürfte staatliches Geld (noch) gar nicht nötig haben. Sie verfügen – teils wegen des unterbliebenen Konsums in der Pandemie – über private Reserven, um den Energiepreisschock aufzufangen, notfalls unter Einschränkungen des übrigen Konsums.“

Will die Autorin wirklich nach den immensen Opfern der Pandemie-Bekämpfung, die alle größeren Aktivitäten (Reisen, Sport, Musik, Festlichkeiten…) trafen, nun das noch verfügbare Geld für die Energierechnung in Beschlag nehmen? Dies Geld wird ja für eine Rückkehr zum modernen Leben dringend gebraucht, und das ist mehr als verdient. Und was ist das überhaupt für eine Wirtschaftslehre, die für die Rolle der Menschen nur das arme Wörtchen „Konsum“ übrig hat? Eine solche Ökonomie ist unfähig, die Größe der Opfer zu ermessen, die die Menschen angesichts der Teuerung jetzt vor sich sehen.

Es geht jetzt nicht nur darum, über die Verteilung von Belastungen und Entlastungen zu streiten, sondern die Grundentscheidungen in Frage zu stellen, die uns überhaupt in diesen dramatischen Engpass geführt haben.

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Die Energie-Verteuerung ist politisch gewollt (III) – In der gegenwärtigen Krise ist nicht nur das Großprojekt „Klimarettung“ wirksam, sondern noch ein zweites Großprojekt. „Putins Russland“ soll niedergeworfen werden. Hier steht mehr im Raum als nur eine defensive Nothilfe für die Ukraine. Das verrät indirekt auch mancher Leitartikel. So schreibt Nikolas Busse auf der Titelseite der FAZ vom 5.9.2022 unter dem Titel „Der Preis der Freiheit“:
„Eine Normalisierung der Energiemärkte zu russischen Konditionen wäre nur zu haben, wenn man die Ukraine verloren gäbe und damit den freiheitlichen Ordnungsanspruch in Europa.“

Zunächst: Eine Zukunft, in der die Energiemärkte „nach russischen Konditionen“ funktionieren, steht gar nicht zur Debatte. Es geht nur darum, ob Russland weiterhin als ein Anbieter unter vielen akzeptiert ist. Ebenso wenig steht ein „Verloren Geben“ der Ukraine zur Debatte. Dass die Einverleibung der Ukraine ein Kriegsziel Russlands ist, ist erstmal eine Unterstellung. Es gibt anderslautende Erklärungen der russischen Regierung. Und Russland hat im Vergleich mit anderen Ländern auch wenig Gründe, sich neue Territorien einzuverleiben. Und dann taucht in dem FAZ-Leitartikel die Formel „freiheitlicher Ordnungsanspruch für Europa“ auf. Das ist in der Tat ein übergreifender Anspruch, und er geht vom Westen aus. Hier wird ein expansives Ziel formuliert, eine Veränderung des Status Quo, ein Zurückdrängen des russischen Einflusses in Europa, eventuell sogar ein Regimewechsel in Russland. Eine einseitig westorientierte Ukraine ist in diesem Großprojekt nur ein Baustein. Die Energiekrise ist in diesem Sinn ein politisch gewolltes Opfer, und so lautet ja auch die Überschrift des Leitartikels: „Der Preis der Freiheit“.

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Warum in der Ukraine-Politik die abwägende Vernunft gefragt ist – Die Bedrohung, die von der Ukraine-Krise ausgeht, ist im Deutschland und vielen Ländern des Westens so hochgeredet worden, dass sie ohne eine Niederwerfung Russlands gar nicht zu beseitigen ist. Damit sind wir in eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Großkonfrontation versetzt. Wer Russland als imperialistischen Unterdrücker-Staat, der einen Eroberungskrieg in Europa führt und dabei vor keinem Kriegsverbrechen zurückschreckt bezeichnet, schließt jede friedliche Koexistenz aus. Wer davon ausgeht, dass Russland „von je her“ ein barbarisch-autokratisches Land ist, erklärt es zum Erbfeind Europas. Dann ist jeder Kompromiss unmöglich, und jeder Versuch, die Kosten und Opfer der Konfrontation zu begrenzen, erscheint als kleinlicher Egoismus – oder gar als heimliche „Unterstützung für Putin“. Aber je größer die Opfer werden, umso mehr Gründe gibt es, die Vertiefung des Feindbildes und die Eskalation der Konfrontation noch einmal kritisch zu überprüfen. Ebenso sollte die Formel „freiheitlicher Ordnungsanspruch“ kritisch überprüft werden, denn es ist eine im Prinzip grenzenlose Formel. Ein Nationalstaat kann sich als „saturiert“ ansehen, weil er die Kosten überdehnter Grenzen kennt. Der „freiheitliche Ordnungsanspruch“ ist eine freischwebende missionarische Größe, der jegliche räumliche Bindung fehlt.

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Zwingende Erzählungen oder abwägende Vernunft – Es sind also zwei grenzenlose Großprojekte, deren Kosten sich addieren und die zu dem dramatischen Engpass geführt haben, in dem wir jetzt stecken. Und es nicht so einfach, aus diesem Engpass herauszukommen. Denn wir müssen den Zwang der „ehrgeizigen“ Ziele loswerden, der uns daran hindert, die Opfer ernst zu nehmen und zu erkennen, dass sie nicht höherer Wille sind, sondern hausgemacht und veränderbar. Wir brauchen dringend eine selbstbewusste abwägende Vernunft, die sich von den sogenannten „Narrativen“ nicht einschüchtern lässt. Solche Narrative sind zwingende Erzählungen, die einzelne Fakten in einen festen Zusammenhang bringen, der nur eine einzige richtige Folgerung zulässt. Die Erzählung vom Klimawandel läuft darauf hinaus, dass Arbeit und Leben um jeden Preis „klimaneutral“ werden muss. Die Erzählung vom „russischen Angriff auf Europa“ läuft darauf hinaus, das Russland niedergeworfen werden muss – „whatever it takes“.

In Deutschland regieren die zwingenden Erzählungen schon ziemlich lange. Mit verheerenden Ergebnissen. Dies Land muss wieder lernen, die Realitäten mit eigenen Augen zu beobachten, und Ziele und Opfer kritisch abzuwägen. Und dann auch ohne Zögern zu korrigieren. Es wäre in diesem Herbst 2022 schon ein großer Gewinn, wenn die geistige Vormacht der unantastbaren Ziele gebrochen wird.

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