Beim Referendum vom 16. April haben 51,3 Prozent der Türken für eine Verwandlung ihres Landes in eine Präsidial-Diktatur gestimmt. Unter den Auslandstürken, die in Deutschland leben, war die Zustimmung nicht etwa geringer, sondern noch höher: 63,1 Prozent. Das bedeutet, dass in der größten ausländischen Bevölkerungsgruppe, die überwiegend schon lange in der Bundesrepublik lebt, eine Mehrheit der Diktatur zuneigt. Die pluralistische Demokratie ihres Gastlandes ist dieser Mehrheit fremd. Mehr noch, hier wurde direkt ein antideutsches Votum abgegeben. Denn ein Grundelement der Erdogan-Kampagne war es, Ressentiments gegen Deutschland zu schüren. Er bezeichnete unser Land als „Hort des Faschismus“ und erging sich in den übelsten Beschimpfungen der Bundesregierung und des Bundestages. Damit war ein ganz handfester Machtanspruch in Deutschland verbunden: Der Anspruch der türkischen Regierung, auf dem Territorium der Bundesrepublik nach eigenem Gutdünken aufzutreten und die dort lebenden Türken für ihre Zwecke zu mobilisieren. Erdogans Worte waren: „Wenn ich es will, werde ich nach Deutschland gehen.“ Und: „Wenn Ihr mich an der Tür stoppt und mich nicht sprechen lasst, werde ich die Welt aufmischen.“ Erdogan betrachtet die Migranten als verlängerten Arm des zukünftigen diktatorischen Systems der Türkei. Es ist der Versuch, eine politische Kolonie in Deutschland zu bilden. Dies Ansinnen hat nun eine Mehrheit unter den Abstimmenden gefunden.
Mit dem 16. April 2017 ist also nicht nur ein diktatorischer Plan für die Türkei gestartet worden, sondern auch ein kolonialer Plan im Ausland. Die Auslandstürken haben eine eigene Machtrolle in Erdogans Zukunftsstaat. Deshalb ist die Zustimmung unter ihnen noch größer als in der Türkei. Es handelt sich nicht um kleine verstreute Gruppen. Für das Referendum waren in Deutschland 1.430.127 türkische Wähler registriert. Knapp 700.000 haben ihre Stimme abgegeben, über 440.000 stimmten mit „Ja“. Wenn man bedenkt, dass sich die Auslandstürken an bestimmten Orten stark konzentrieren, ist das eine beträchtliche Macht, die da im Land steht und sich im Zweifelsfall nicht an die deutschen Gesetze gebunden fühlt.
Das Referendum war eine Stunde der Wahrheit für die Integration von Migranten. Es gibt hierzulande die verbreitete Vorstellung, der Migration wohne ein innerer Hang zur Integration inne. Es sei der erste, sozusagen „natürliche“ Impuls von Migranten, sich stark auf das Aufnahmeland einzulassen. Sie würden sich ihm mit besonders viel Aufmerksamkeit, Neugier, Respekt und auch mit einer gewissen Dankbarkeit zuwenden. Ebenso sei hier die Bereitschaft besonders groß, sich mit Widrigkeiten abzufinden und weder Mühen noch Opfer zu scheuen, um in das Land hineinzufinden. Konflikte könnte man als „Anfangsschwierigkeiten“ ansehen, die bald durch die Fähigkeit zur Nachahmung und die Macht der Gewöhnung abnehmen würden – sozusagen im Selbstlauf des zivilgesellschaftlichen Alltags. Doch nun müssen die Deutschen feststellen, dass bei der größten Migrantengruppe mit langer Präsenz im Lande das glatte Gegenteil von Integration stattgefunden hat. Leute, oft aus der zweiten und dritten Einwanderungs-Generation, in Deutschland geboren, hier im Stadtteil aufgewachsen, zur Schule gegangen, das Gesundheitswesen, die Einkaufsmöglichkeiten, die Sport- und Kultureinrichtungen und die Parks benutzt, behandeln ihr Gastland, als wäre es ihr größter Feind. Im Erdogan-Votum der türkischen Migranten ist ein tiefer Bruch offenbar geworden. Das Votum ist mehr als ein bloßes Stimmungsbild und eine Momentaufnahme. Es ist eine historische Bilanz der Integrationspolitik seit den 1970er Jahren. Das kann und darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.
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Das Zweck-Mittel-Schema der Migration – Nein, die Deutschen sollten nun nicht gleich wieder nach der eigenen Schuld fragen, sondern auf das schauen, was man aus dem Erdogan-Votum über die Migration lernen kann. Und man sollte sich nicht scheuen, den Vorgang mit moralischen Kriterien zu betrachten. Hier findet nämlich eine fundamental inhumane Instrumentalisierung statt. Die Migranten sind bereit, die übelsten Vorwürfe gegen ihr Gastland zu erheben. Und zugleich nehmen sie alle Leistungen dieses Landes in Anspruch, die sie nur bekommen können. Für dies Verhalten gibt es eine klare Bezeichnung: Sie betrachten und benutzen das Gastland nur als Mittel zum Zweck. Und indem sie Deutschland so benutzen, benutzen sie die Menschen, die dies Land über Generationen aufgebaut haben, auch als Mittel zum Zweck. Wenn aber ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt, so verletzt er seine Menschenwürde.
Die klassische Definition einer menschenwürdigen Moral, die Immanuel Kant gegeben hat, lautet: Wo ein Mensch einen anderen Menschen als bloßes Mittel behandelt, setzt er ihn als Menschen herab und handelt inhuman. Diese Einstellung ist jetzt als Mehrheitsvotum der Türken in Deutschland offenbar geworden.
Es geht hier nicht darum, den türkischen Migranten in Deutschland irgendeinen üblen „Volkscharakter“ vorzuhalten. Das Problem der Instrumentalisierung liegt woanders – es hat mit dem Vorgang des Migrierens zu tun. Die Neigung, das Gastland und die aufnehmenden Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen, ist in der Migration angelegt. Denn Migrieren bedeutet, dass sich Menschen mit einem relativ einfachen, schnellen Schritt Zugang zu einem Land verschaffen können, dessen Aufbau und dessen Aufrechterhaltung ungleich komplexer, mühevoller, langwieriger war und ist. Es gibt also ein fundamentales Ungleichgewicht zwischen dem Migranten und dem Aufnahmeland.
Keineswegs ist es so, dass das härtere Schicksal auf Seiten des Migranten liegt, während der Bürger des aufnehmenden Landes bequem zu Hause sitzt. Sondern es ist umgekehrt: Die Härten des Migrierens sind unverhältnismäßig kurz im Vergleich zur dauerhaften Anstrengung der Selbstbehauptung eines Landes. Deshalb ist die moralische Gefahr, dass der Migrant seinen Blick nur auf den Zweck (die Errungenschaften und Erträge des Gastlandes) richtet und die Menschen, die dahinterstehen, missachtet und ausnutzt, groß. Es ist deshalb höchste Zeit, den Heiligenschein, den man vielfach über die Migration gehängt hat, durch eine nüchternere Betrachtung zu ersetzen.
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Eine Integrationspolitik, die das Zweck-Mittel-Schema verstärkt – Das Erdogan-Votum von 2017 bedeutet eine verheerende Bilanz. Eine ganze Epoche immer neuer Förderprogramme und Vorleistungen, die mit den 1970er Jahren begann, resümiert sich in einer schroffen Feindlichkeit gegen Deutschland (und Europa). Ein solches Endergebnis zeigt einen grundlegenden Baufehler der Integrationspolitik. Sie kann keine Loyalität zum aufnehmenden Land herstellen, weil ihre Programme nur das Zweck-Mittel-Schema bei den Migranten bedienen und damit verstärken. Ähnliches haben andere europäische Länder schon erlebt. Sie mussten feststellen, dass die Massenmigration immer weniger zur Einfügung in die Gastländer tendierte und auch die großzügigsten Fördermaßnahmen keine Loyalität herstellen konnten.
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Diese Kampagne ist nun in Deutschland – Die Aussichten sind finster. Denn die lange Entwicklung, die man bei den Türken beobachten kann, zeigt auch die Aussichten der neuen Einwanderungswelle seit 2015. Vor knapp einem Jahr hat die Große Koalition „das größte Integrationsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ verabschiedet. Es enthält nichts, was nicht schon vorher versucht worden wäre. Statt einer allmählichen Stabilisierung und Befriedung des Landes droht also ein Szenario wachsender Spannungen, von dem die „Wahlkampagne“ des Erdogan-Lagers schon einen Vorgeschmack gegeben hat. Die Bürger in Deutschland müssen sich nun darauf einstellen, dass sie im Alltag mit jenem Hass zusammenleben müssen, der in dieser Kampagne zur gängigen Münze wurde. Und sie werden dem neuen türkischen Machtgefühl, das sich für unentbehrlich und unantastbar hält, ausgesetzt sein. Jetzt zeigt sich, wie verheerend es war, die Grenzhoheit im Südosten Europas in die Hände der Türkei zu legen. Und wie widersinnig die in Deutschland eingeführte doppelte Staatsbürgerschaft ist, die nun für die Bildung einer Erdogan-Kolonie genutzt werden kann.
Und dennoch scheint nichts für eine Korrektur der deutschen Politik zu sprechen. Nach dem erschütternden Türken-Votum in Deutschland dauerte es nur wenige Stunden, bis wieder der gängige Jargon der „Offenheit“ die Oberhand gewonnen hatte: Die Türken in Deutschland fühlten sich „ausgegrenzt“, war zu hören, und deshalb müsse man jetzt „neue Anstrengungen für einen Dialog“ unternehmen. Über einem Artikel in der FAZ (18. April), der eigentlich einen Bericht über die Reaktionen in Deutschland und Europa abgeben sollte, stand die Appell-Überschrift „Kühlen Kopf bewahren“.
Man muss also damit rechnen, dass das Unternehmen „Globales Deutschland“ auch dann noch weitergeführt wird, wenn das Alltagsleben der Bürger längst gründlich vergiftet ist.