Die Welt steht im Bann der Corona-Pandemie. Das öffentliche Leben ist schwer getroffen, und nicht weniger der private Bereich, über dessen kleine und große Dramen nur wenig berichtet wird. Hinzu kommt, dass die Pandemie auch zu einem weitgehenden Zusammenbruch der Wirtschaftstätigkeit und der Infrastrukturen geführt hat.
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Ein historischer Vergleich, der den heutigen Schock nicht wirklich trifft – In diesen Tagen wird häufig der Vergleich mit der „spanische Grippe“ von 1918 gezogen. Diese Epidemie führte zu mehr als einer Million Todesopfern, aber sie traf auf eine Kriegswelt, die in vieler Hinsicht schon zerrüttet war. Damals gab es kein Grundgefühl der Sicherheit, dass plötzlich erschüttert wurde so wie jetzt. Unsere Gegenwart und unsere Zukunftserwartung fußt auf dem festen Glauben, dass die Natur (einschließlich der menschlichen Natur) eine im Grunde „gute Welt“ ist, und dass wir uns nur auf sie zurückbesinnen müssen, damit alles gut wird. Deshalb, so lautet ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit, müsse unsere Zivilisation in der Tendenz „weicher“ werden und sich dem natürlich Gegebenen „öffnen“. Diese über Jahrzehnte gewachsene, unbewusste Tiefenschicht unseres Weltbildes wird nun von der Corona-Pandemie angegriffen. Der sichere Boden, auf dem wir gerade noch zu stehen und fortzuschreiten glaubten, gerät ins Wanken.
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Das Erdbeben von Lissabon (I) – Für diesen Vorgang gibt es ein anderes historisches Vorbild als die spanische Grippe: das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, das in Verbindung mit einem Großbrand und einem Tsunami die gesamte Stadt zerstörte. Es war eine der verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte. Und sie hatte nicht nur materielle Auswirkungen, sondern veränderte auch das Weltbild der Epoche. Goethe schreibt in seiner autobiographischen Schrift „Aus meinem Leben“ von dem „ungeheuren Schrecken“, den das Erdbeben von Lissabon über die „in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt“ verbreitete: „Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen miteinander zugrunde.“ Goethe fügt hinzu „…und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür“.
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Das Erdbeben von Lissabon (II) – Goethe erwähnt auch die geistige Schockwelle, die dies Ereignis auslöste: „Vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.“ Diese Schockwelle veränderte auch die bisherige Tonlage des aufklärerischen Denkens. Sie erschütterte den Optimismus der Aufklärung, der in der Grundannahme bestand, dass diese Welt im Grundsatz – als Schöpfung – schon wohlgeordnet sei und in diesem Sinn als „die beste aller Welten“ schon etabliert wäre. Das Erdbeben warf die philosophisch-theologische Frage auf, wie ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück zulassen konnte – und warum das Erdbeben die Hauptstadt eines streng katholischen Landes getroffen hatte, von dem die Verbreitung des Christentums in alle Welt ausging. Warum geschah das ausgerechnet am Feiertag „Allerheiligen“? Und warum waren zahlreiche Kirchen dem Beben zum Opfer gefallen, aber das Rotlicht-Viertel „Alfama“ verschont geblieben? Insbesondere bei Voltaire wird sichtbar, wie das Unglück von Lissabon zu einem härteren Verständnis von Aufklärung führte. Es inspirierte ihn zu seinem Roman „Candide“, der als bissige Satire auf die Philosophie von Leibnitz und Wolff, nach denen die existierende Welt die beste aller möglichen sei, gelesen werden kann.
Das Erdbeben löste also keineswegs eine kultur- oder zivilisationskritische Wende aus, die sich mit der „Vergänglichkeit“ menschlicher Werke zufriedengab. Eher sollte man von einer „naturkritischen“ Wende sprechen, die den Blick auf die Naturbedingungen, mit denen sich Kultur und Zivilisation auseinandersetzen müssen, schärfte. So gab das Erdbeben von Lissabon einen Anstoß zur wissenschaftlichen Erdbebenforschung. Auch in einem größeren geschichtlichen Rahmen betrachtet, bildete das Erdbeben von 1755 nicht den Auftakt zu einer Epoche fatalistischer Resignation. Denn im folgenden Zeitraum von 1750 bis 1850 gab es einen massiven Zivilisationsschub: Durchbruch der industriellen Revolution, Führungswechsel vom Handelskapital zum Produktionskapital, Entstehung bürgerlich-demokratischer Verfassungsstaaten und ein starkes Großstadt-Wachstum. Natürlich soll das nicht heißen, dass das Erdbeben von Lissabon das alles verursacht hätte. Aber dies singuläre Ereignis hat, mit seiner Erfahrung des feindlichen Moments der Natur, zu einem neuen „ernsteren“ Zeitgeist beigetragen, der dann eine realistisch-produktive Wendung nahm.
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Wenn die wohlfeilen Lösungsmittel versagen – Kann das Corona-Beben eine solche Wirkung haben? Kann es den naiven Optimismus und die Lücken der heutigen „Globalsteuerung“ sichtbar machen? Kann es den Vertrauensverlust, der bisher schon im Verborgenen wuchs, nun offiziell machen? Und kann es zu einem größeren, realitätsnäheren Ernst führen, der die guten Kräfte, die die moderne Zivilisation über lange Zeit getragen haben und die heute wenig Achtung genießen, rehabilitiert? Man hört ja jetzt vielfach den Satz, dass „nichts mehr so sein wird, wie es vorher war“. Aber Vorsicht, dies ahnungsvolle Raunen kann auch bloße Wichtigtuerei sein. Man muss schon genauer hinschauen, was jetzt hinfällig wird.
Eine erste Beobachtung: Zu einem Zeitpunkt, als „Corona“ noch gar nicht als Pandemie eingestuft war, haben die internationalen Börsen mit Kurseinbrüchen reagiert, die in keinem Verhältnis zur festgestellten Bedrohung stand. Es zeigte sich, auf welch fragilen Fundamenten die Höchstkurse an den Börsen standen. Und nun kam etwas hinzu: Die sofortige Injektion von billigem Geld durch die Zentralbanken, die bisher bei Krisen das Allheilmittel gewesen war, funktionierte diesmal nicht. Es kam zu immer wieder neuen großen Kurseinbrüchen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass diesmal die Arbeits- und Markt-Tätigkeiten physisch getroffen waren und kein Geld der Welt Arbeitskräfte und Kunden kaufen kann, wenn sie um Leib und Leben fürchten müssen.
Eine zweite Beobachtung: Auch das zweite wohlfeile Allheilmittel, das insbesondere in der Politik zur Vorherrschaft gekommen ist, erwies sich nun als wirkungslos – die „großen Erzählungen“. Gerade noch hatten führende deutsche und europäische Politiker Reden gehalten, in denen „die Zukunft“ gegen „das Gestrige“ aufgeboten wurde. Oder „die Weltoffenheit“ gegen „die Abschottung“; oder „Europa“ gegen „das Nationale“; oder „die Jugend“ und „die Frauen“ gegen „die alten weißen Männer“. Angesichts des Corona-Bebens wirken solche Erzählungen nur noch peinlich. Sie scheppern wie billiges Blech. Ihre gesellschaftsspaltende Wirkung ist unübersehbar. Und nun kann man beobachten, wie beinahe im Stundentakt Positionen geräumt werden, mit denen gerade noch „die Guten“ und „die Bösen“ geschieden wurden (oder das „helle Deutschland“ vom „Dunkel-Deutschland“). Gerade noch wurden Länder beschimpft, die angesichts der Epidemie ihre Grenzen geschlossen hatten. Am nächsten Tag schloss man sie selber – ohne die Courage zu besitzen, das Falsche der bisher eingenommenen Position offen auszusprechen.
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Die elementaren Berufe werden wichtig – Die heutige Weltlage hat etwas von einem Kartenhaus, wo es an einer Stelle einen kräftigen Einschlag gibt, aber dann viel mehr umfällt, als direkt vom Schlag getroffen wurde. Insofern ist an dem Satz, dass nach dem Ende der Corona-Pandemie nichts mehr so sein wird, wie es vorher war, etwas dran. Aber in welche Richtung werden sich die Dinge ändern? Eine Antwort ist oft schon in dem enthalten, was sich jetzt zur Bewältigung der Krise als wichtig erweist. In der „Neuen Ruhr Zeitung vom 16.3.2020 stand ein bemerkenswerter Kommentar, in dem es an einer Stelle heißt:
„In den zurückliegenden Jahren hatte man oft das Gefühl, dass allein Berufe mit akademischer Ausbildung als wertvoll und wichtig für die Gesellschaft angesehen wurden. Nun zeigt die Corona-Krise, dass Krankenschwestern, Pfleger, Arzthelfer, Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Bahn- und Busfahrer oder Fernmeldetechniker die wahren Stützen unseres Gemeinwesens sind.“
Das ist sehr wahr, und es ist ein gutes Zeichen, dass jetzt Aktionen großen Zuspruch finden, wo Bürger in Stadtteilen, die unter Quarantäne stehen, abends zu einer verabredeten Stunde auf ihre Balkone oder an ihre geöffneten Fenster treten, und den Berufen, die wirklich an der Front gegen den Virus und seine Ausbreitung stehen, ihren Beifall spenden. Das Elementare, das oft stillschweigend vorausgesetzt wird, tritt jetzt in den Vordergrund. In dem Applaus kommt aber auch zum Ausdruck, dass in dieser Krise professionelle Kräfte Vorrang haben und die Handlungs-Möglichkeiten der vielzitierten „Zivilgesellschaft“ begrenzt sind. Eine neue Wertschätzung für das Elementare und für die entsprechenden Berufe – das ist schon mal eine große Änderung, wenn man daran denkt, was in Deutschland noch vor wenigen Wochen als Engagement “for future“ galt. Diese Veränderung ist aber nur glaubwürdig, wenn jetzt die ganze Überladung der Pflegeberufe mit Bürokratie, Sozialpädagogik und anderen akademischen „Innovationen“ auf den Prüfstand kommt. Lange Zeit gefiel sich die Politik darin, eine Pflege als „inhuman“ zu kritisieren, die das Prinzip „Sauber, satt und sicher“ in den Vordergrund stellte. Jetzt ist man froh, wenn sauber, satt und sicher überall gewährleistet sind – und der Bundesgesundheits-Minister sieht sich veranlasst, die Pflegeeinrichtungen von einer ganzen Reihe von gesetzlichen Zusatzaufgaben zu entbinden, damit sie ihre Kernaufgabe erfüllen können.
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Lange Wertschöpfungsketten als verwundbare Flanke – Ein zweiter Komplex, der jetzt auf den Prüfstand gehört, ist die Dominanz der globalen Wertschöpfungsketten, die dazu geführt hat, dass Produkte und Tätigkeiten, die für ein Land existenziell notwendig sind, nicht mehr sicher verfügbar sind. Auch Deutschland musste auf einmal die Erfahrung machen, dass seine Arzneimittel-Herstellung so weitgehend ins Ausland verlagert wurde, dass plötzlich die Versorgung auf der Kippe stand. Ein ähnliches Problem gibt es in der Landwirtschaft. Auf der Krisen-Pressekonferenz der Landwirtschaftsministerin Klöckner mit Vertretern der Bauern, der Lebensmittelindustrie und des Einzelhandels konnte man erfahren, dass es ein akutes Arbeitsproblem gibt: Die Zeit der Auspflanzungen steht vor der Tür, an Regen hat es nicht gefehlt und die Pflanzlinge sind da. Aber es ist unklar, ob die 100.000 Arbeitskräfte aus Osteuropa, ohne die Deutschland seine Felder nicht mehr bepflanzen kann, noch kommen können und wollen.
Natürlich gäbe es im Prinzip genügend deutsche Bürger, die solche physischen Arbeiten ohne weiteres machen könnten. Aber die regierende Politik hat sich darauf verlegt, 70-80 Prozent eines Jahrgangs auf höhere Bildungsgänge und entsprechende Berufslaufbahnen zu bringen. Deshalb hat man massiv zum Import von Arbeitskräften für Feldarbeit gegriffen. Die „Lösung“ besteht also darin, die Geringschätzung für elementare Berufstätigkeiten mit dem Mittel internationaler Kettenbildung auszugleichen. Das war sowieso schon eine wackelige Lösung. Und jetzt ist sie nicht mehr haltbar. Jedes Land braucht einen Grundbestand an eigenen Arbeitsfähigkeiten und Betrieben, der seine Versorgungssicherheit gewährleistet. Ohne solche tiefergreifenden Änderungen, die die Grundaufstellung Deutschlands (und anderer Länder) betreffen, wird eine Erholung des Wirtschaftslebens nicht zu haben sein.
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Über externe und interne Kosten – Es gibt noch eine weitere, tiefere Grundorientierung der neueren Entwicklung von Staat und Wirtschaft, die sich jetzt als Fall erweist – weil sie uns daran hindert, die internen Lücken in unserer Zivilisation zu sehen und zu schließen. Bei den großen Themen, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten umgetrieben haben, ging es vor allem darum, dass die Systeme Wirtschaft und Staat „externe“ Größen nicht genügend berücksichtigen. Die „vom Menschen verursachte“ Klimakrise oder die gleichfalls vom „System“ verursachten sozialen Ungleichheiten galten als die großen Gefahren der Gegenwart. Es ging immer um sogenannte „externe Kosten“. Das sind Wirkungen, die mit der modernen Zivilisation verbunden sind, und die – so die Forderung – der Wirtschaft (und dem Infrastruktur-Staat) als Kosten anzurechnen sind. Diese Forderung hat eine Flut von Grenzwerten, Auflagen, Verboten und Abgaben nach sich gezogen. Und auch die Großvorhaben „Energiewende“, „Verkehrswende“ oder „Agrarwende“ wurden immer die externen Kosten der herkömmlichen Lösungen angeführt. Das war in der Politik so, aber auch im Management der Unternehmen hatte die Forderung, erweiterte ökologische und soziale Kosten zu übernehmen, an Einfluss gewonnen. Die Fixierung auf die „externen Effekte“ wurde, oft mit dem Anspruch einer höheren Moral, immer dominanter.
Doch mit dem Corona-Beben wird diese Gefechtsordnung nun zum ersten Mal seit langem im großen Maßstab umgekehrt: Wir haben ein zerstörerisches externes Ereignis, das die internen Kosten immens steigert – ja, es bringt sogar den internen Betrieb weitgehend zum Stillstand. Damit fehlen nicht nur die Erträge, aus denen zusätzliche „externe Kosten“ bestritten werden können, sondern es fehlen auch die viel elementareren Erträge, aus denen überhaupt die Einkommen der Leute gewonnen werden können. Und es handelt sich nicht um einen bloßen Zwischenfall von ein paar Tagen oder Wochen. Es ist noch gar nicht absehbar, wann und wie die Corona-Krise ein Ende finden kann. Damit rücken nun die internen Kosten (und die Totalverluste) in den Mittelpunkt. Die ganze Blickrichtung, die sich in jüngerer Zeit in Politik, Medien und Gesellschaft durchgesetzt hat, muss sich umkehren. Das wird nicht leichtfallen.
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Deutschland braucht ein politisches Moratorium – Es geht nicht allein um das Denken, es geht um praktische Politik. All die zusätzlichen Kosten, Lasten und Einschränkungen, die den produktiven Tätigkeiten und Infrastrukturen aufgebürdet wurden, müssen auf den Prüfstand. Wir brauchen eine Revision aller beschlossenen Gesetze, Grenzwerte und Auflagen, die die Grundfunktionen von Wirtschaft und Staat belasten oder behindern. Ebenso brauchen wir ein Moratorium all jener Beschlüsse, die für die kommenden Jahre die Stilllegung von Kraftwerken vorsehen oder das Produktionsende von Verbrennungsmotoren. Es kann nicht sein, dass weitreichende Einschränkungen von Grundrechten der Bürger beschlossen werden, und gleichzeitig teure Wende- und Rettungsprojekte, die alle von einem wohlhabenden Land im Vollbetrieb ausgingen, einfach weiterlaufen. Schon jetzt stellen sich viele Menschen angesichts der dramatischen Einbrüche bei vielen Tätigkeiten die Frage, wie Deutschland wieder in Gang kommen soll. Und diese Frage wird umso lauter werden, je länger der Corona-Stillstand dauert.