Tichys Einblick
Gefährlicher als Außenpolitik

Westeuropa ist in Gefahr, sich innenpolitisch China zu nähern

Der Westen sollte von der Vorstellung geheilt sein, er wäre das Maß der Dinge. China sollte der Westen nicht gestatten, das neue Maß der Dinge zu werden. Doch daran können die Mitgliedsstaaten der EU am ehesten in ihrer Innenpolitik mitwirken. Freiheit oder Zwang ist die Frage, nicht links oder rechts oder welche Partei.

Xi Jinping hält eine virtuelle Rede in Peking für das Weltwirtschaftsforum

IMAGO / Xinhua

Wir sind überzeugt, dass Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit, und Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität bedeutet.
Michail Alexandrowitsch Bakunin sagte es vor allem seinem Lieblingsfeind Karl Heinrich Marx.

Im Merksatz des Anarchisten Bakunin stecken tiefe Wahrheiten, an die er damals nicht denken konnte: Die politischen Alternativen werden durch Parteien nicht abgebildet. Es gibt die Staatsgläubigen in allen Parteien zuhauf, aber in keiner Partei unbedingte Anhänger der Freiheit in nennenswerter Zahl.

Eine andere Wahrheit dürfte Bakunin hingegen sehr klar gewesen sein: Sozialismus in allen seinen Spielarten wird immer durch Inbesitznahme der vorgefundenen, (noch) nicht sozialistischen staatlichen Gewalt ausgeübt. Sozialismus baut keine neue Ordnung, sondern übernimmt die Kommandostände der alten.

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Genau das findet seit 1967 statt, beschleunigte sich im Durchlauferhitzer der sogenannten Wiedervereinigung, die ein Anschluss war, bei dem von den alten Inhabern der Staatsgewalt der DDR mehr an Personal und noch mehr an Geist übernommen wurde, als den zarten Ansätzen von Recht und Freiheit der alten Bundesrepublik gut bekommen konnte, die auf dem Weg von Bonn nach Berlin übrig geblieben waren.

Eines blieb bis heute trotz der tiefgreifenden Änderungen gleich. Nicht nur die Funktionäre der Parteien, sondern auch Journalisten, Wissenschaftler und die Funktionäre der Gewerkschaften von Arbeit und Kapital reden über die Parteien und ihre „Lager“, etwa das „bürgerliche“ , „linke“ oder „rechte“ so, als würden sich diese noch so unterscheiden wie in den Anfängen der Bonner Republik und vor 1933.

Währenddessen hat unter der veröffentlichten Wahrnehmungsoberfläche ein Wandel innerhalb der Parteien und ihrer Anhängerschaften bis hin zur Verwechselbarkeit stattgefunden. Er verbietet es, in und mit den alten Mustern zu verstehen, zu interpretieren und zu argumentieren: Weil diese Muster nur noch als Kürzel und Überschriften existieren, aber längst nicht mehr in den Inhalten zu finden sind.

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Das betrifft alles, was innenpolitisch stattfindet, aber aktuell auch sehr deutlich die Außenpolitik. Hier notiere ich ein besonderes Paradoxon. Es sind oft dieselben, die angesichts des katastrophalen Versagens auf allen wichtigen Politikfeldern die Handlungsfähigkeit von Regierungen und Parlamenten zutreffend als nicht gegeben einstufen, doch in ihren Beiträgen zum Konflikt zwischen West und Ost und international von der Bundesregierung so reden, als handle es sich um handlungsfähige Institutionen und Personen, gar noch mit einem einsatzfähigen Instrument wie einer bewaffneten Macht namens Bundeswehr.

Die Umstände der Entlassung eines hohen Militärs, der sagte, die Krim würde nie wieder zur Ukraine gehören, warfen ein Schlaglicht auf die untaugliche Betrachtung von Gegenwart und Zukunft in alten Mustern. Die Formel von der völkerrechtswidrigen Okkupation der Krim zu verwenden, ist mit Verlaub unangebracht, wo doch schon seit 1918 jeder wissen kann, dass ‚Völkerrecht‘ nicht nur kein ‚Recht‘ ist, sondern ein Instrument des anfänglich von den USA dominierten ‚Völkerbundes‘ war, aus dem die von mehrheitlich autoritären Regierungen – China allen voran – dominierten United Nations (UN) wurden. So wie der Völkerbund das ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ in die Welt setzte, um sich sogleich selbst nicht daran zu halten, tun die UN alles Mögliche, nur mit ‚Recht‘ haben sie nichts zu tun. (Tomas Spahn hat das gründlich abgehandelt in SGO: Ein übernationaler Verein greift nach der Weltherrschaft.) Eine Selbststimmung der Völker hat seit 1918 nie stattgefunden.

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Russland, Krim, NATO und EU stellen sich für mich als interessierten Beobachter der Politik seit frühen Jugendtagen recht einfach dar. Nach der Implosion des Sowjetkommunismus –  nicht ‚Sieg‘ des US-Kapitalismus – haben die Mandarine des Westens ihre Chance genutzt und mit dem Türöffner EU auch die NATO in jene Teile Europas ausgedehnt, die Stalin unter Nutzung seiner Chancen nach 1945 in politischen Besitz genommen hatte. Nachdem sich Russlands politische Klasse nach der Lähmung von Gorbatschow bis Jelzin unter Putin neu sortiert und Punkte im Nahen Osten, mit der Krim und in der Ostukraine gemacht hat, ist das Selbstbewusstsein seiner Mandarine gewachsen und erlaubt Putin, Russlands Chancen auszuloten, den Westen von der Eingemeindung der Ukraine in EU und/oder NATO abzuhalten.

Das ist historisch nichts Neues, im Gegenteil alt und insofern durchaus normal. Mir ist es selbstverständlich lieber, die USA bleiben die internationale Führungsmacht und China wird es nicht. In diesem Duell kann Russland sekundieren, mehr nicht. Lieber wäre es mir, wenn Russland den USA sekundiert statt China. (Im Moment allerdings stellen sich Putin und Xi bei Olympia ostentativ hinter und neben einander.)

Der Westen sollte meiner Meinung nach jedenfalls von der Vorstellung geheilt sein, er wäre das Maß der Dinge. Chinas KP sollte der Westen nicht noch weiter als bisher schon gestatten, das neue Maß der Dinge zu werden. Doch daran, dass dies nicht passiert, können vor allem die Bürger der Mitgliedsstaaten der EU am besten in der eigenen Innenpolitik arbeiten: Erstens, weil die EU außenpolitisch ohnedies nichts auf die Waage bringt, und zweitens weil die konkrete Gefahr der innenpolitischen ‚Xinisierung‘ überall in Westeuropa droht. Wie die Schleifung von Grundrechten in der Uniform des Corona-Regimentes erschreckend zeigt: Bakunins Warnung vor Sklaverei und Brutalität ist hoch aktuell.

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