Tichys Einblick
Financial Times über Anders Tegnell

Warum sinken die Neuansteckungszahlen in Schweden?

Richard Milne ist Korrespondent der Financial Times für Skandinavien und das Baltikum. Aus seinem Gespräch mit Schwedens Staats-Epidemiologen Anders Tegnell sollen wichtige Aspekte festgehalten werden.

Anders Tegnell

imago Images/TT

Eine Minderheit daheim und viele international, fasst es Richard Milne, sehen Anders Tegnell problematisch. Die Partei der Schwedendemokraten habe ihn zum Rücktritt aufgefordert, nachdem Tausende ältere Menschen in Pflegeheimen starben. Schweden verzeichne die fünfthöchste Todesrate in Europa, fünf mal höher als der Nachbar Dänemark, zehn mal mehr als Norwegen und Finnland.

Indem Schwedens Staats-Epidemiologe nicht Chinas Lockdown folgte, sondern Schulen, Restaurants, Fitness Center und Grenzen offen hielt, sei er eine polarisierende Person in einer polarisierenden Zeit geworden. Für viele Schweden  verkörpere Tegnell die Vernunft, während andere Länder Wissenschaft für Emotionen missbrauchten.

Richard Milne original: “At the outset, we talked very much about sustainability, and I think that’s something we managed to keep to. And also be a bit resistant to quick fixes, to realise that this is not going to be easy, it is not going to be a short-term kind of thing, it’s not going to be fixed by one kind of measure. We see a disease that we’re going to have to handle for a long time into the future and we need to build up systems for doing that”.

(Am Anfang sprachen wir sehr viel über Nachhaltigkeit, ich denke, daran hielten wir uns. Wie an Widerstand gegen schnelle Lösungen, weil das keine einfache und keine kurzfristige Sache wird, keine, die durch eine bestimmte Art von Maßnahme lösbar ist. Wir haben es mit einer Krankheit zu tun, mit der wir in Zukunft noch lange fertig werden und für die wir Systeme aufbauen müssen.)

Milne weist darauf hin, dass er jetzt mit Tegnell zu einer Zeit sprach, in der praktisch alle Länder eine zweite Welle befürchten, während die Zahlen für Schweden den ganzen Sommer über sanken. Pro Kopf der Bevölkerung lägen die Zahlen in Schweden nun 90 Prozent unter dem Höhepunkt im Juni und zum ersten mal in fünf Monaten unter denen von Norwegen und Dänemark. Tegnell habe ihm beim ersten Gespräch im Frühling gesagt, dass im Herbst sichtbarer werden würde, wie erfolgreich welches Land war.

Tegnell prognostiziere nun für Schweden einen niedrigen Verbreitungsgrad mit gelegentlichen lokalen Ausbrüchen. In anderen Ländern würde es seiner Meinung nach kritischer, sie seien wahrscheinlich anfälliger für Spitzen, weil sie keine Immunität als Bremse hätten. Herdenimmunität, unterstreicht Richard Milne, sei eines der kontroversesten Konzepte der Covid-19-Krise. Tegnell beharre darauf, dass es nicht sein Ziel war, das Virus laufen zu lassen, bis ihm genug Leute ausgesetzt waren und die Infektionsrate abnahm. Aber er halte die Immunität zumindest teilweise für den Grund der zuletzt starken Abnahme der schwedischen Fälle.

Und dann kommt Milne auf den Punkt, der mich am meisten interessiert. Er schreibt: Schwedens Umgang mit der Pandemie sei deshalb zum großen Teil ungewöhnlich, weil Schwedens Regierungsführung ungewöhnlich wäre. Anders als in praktisch jedem anderen Land ist es nicht die Politik, die die großen Entscheidungen treffe, sondern Schwedens staatliche Gesundheitsagentur als unabhängige Autorität: In der Praxis bedeute das Tegnell.

Dessen Ablehnung nationaler Lockdowns sei unübersehbar, wenn er insistiert: „Das heißt wirklich, einen Hammer einsetzen, um eine Fliege zu töten.“ Dem gegenüber wäre Tegnells Herangehensweise eine Strategie, die – falls nötig – Jahre beibehalten werden könne, statt rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, wie es im übrigen Europa zu sehen wäre.

Richard Milne zitiert Tegnell: “We don’t see it as viable to have this kind of drastic closing down, opening and closing. You can’t open and close schools. That is going to be a disaster. And you probably can’t open and close restaurants and stuff like that either too many times. Once or twice, yes, but then people will get very tired and businesses will probably suffer more than if you close them down completely.”

(Wir halten dieses drastische Schließen, Öffnen und Schließen nicht für praktikabel. Ein- oder zweimal, ja, aber dann werden die Leute sehr müde und Unternehmen werden wahrscheinlich mehr leiden, als wenn Sie sie vollständig schlössen.)

Schwedens Herangehensweise sei darauf gerichtet, das Gesundheitssystem am Laufen zu halten, aber auf die öffentliche Gesundheit ganzheitlich zu schauen statt auf möglichst wenig Covid-19-Tote allein. Deshalb sei der Sport von Kindern ebenso weiter gegangen wie Grundschulen, Yogastunden, Essen und Trinken mit Freunden und Einkaufen.

Tegnell sähe Schulen nicht nur als einen Platz, wo sich das Virus verbreiten könnte, sondern als den wichtigsten Platz für das Befinden eines jungen Menschen. Milne zitiert: “If you succeed there, your life will be good. If you fail, your life is going to be much worse. You’re going to live shorter. You’re going to be poorer. That, of course, is in the back of your head when you start talking about closing schools.”

(Wenn du dort erfolgreich bist, wird dein Leben gut. Wenn du scheiterst, wird dein Leben viel schlechter. Du wirst kürzer leben und ärmer sein. Das hast du natürlich im Hinterkopf, wenn du anfängst, über das Schließen von Schulen zu reden.)

Im Juni, erzählt Milne, habe Tegnell den hastigen Lockdown im übrigen Europa und den USA beschrieben, als ob die Welt “had gone mad”. Jetzt klänge er versöhnlicher, schaue aber nach wie vor ungläubig auf das Vorgehen der anderen. Sich an Masken zu gewöhnen, sei mehr Statement als tatsächliche Maßnahme: “Face masks are an easy solution, and I’m deeply distrustful of easy solutions to complex problems.” (Gesichtsmasken sind eine einfache Maßnahme und ich misstraue einfachen Lösugen für komplexe Probleme zutiefst.)

Milne fragt Tegnell nach Alternativen. Der antwortet:

“That comes back to sustainability. Sustainability, to a certain extent, is to have ice in your stomach because you need to believe in the long-term effects of what you’re doing and not starting to doubt them too early.”

(Damit sind wir wieder bei Nachhaltigkeit, dafür musst du kaltblütig auf die Langzeitwirkungen vertrauen und und ihnen nicht zu früh misstrauen.)

Tegnell, stellt Milne in seinem Gespräch mit ihm fest, scheine wenig zu zweifeln. Im Juni verursachte er Aufregung, als er sagte, Schweden hätte härter gehandelt, wenn es zu Beginn gewusst hätte, was es nun wisse. Als Milne ihn nun im September fragt, ob er dann anders gehandelt hätte, sagt Tegnell, während es gut gewesen wäre zu wissen, wie sich Covid-19 entwickeln würde, sei er nicht sicher, ob das viel geändert hätte.

Milnes Gespräch schließt mit einem Tegnell, der weiter gegen den Strom schwimmt und warnt, dass eine Impfung – „wenn und wann sie kommt“ – nicht das “silver bullet” sein wird – keine Silberkugel: “Once again, I’m not very fond of easy solutions to complex problems and to believe that once the vaccine is here, we can go back and live as we always have done. I think that’s a dangerous message to send because it’s not going to be that easy.”

(Noch einmal, ich glaube nicht an einfache Lösungen für komplizierte Probleme. Zu glauben, wenn erst einmal die Impfung da ist, können wir wieder leben, wie wir es immer getan haben, ist eine gefährliche Botschaft, denn so einfach wird es nicht.)

Soweit Richard Milne in der Financial Times.

Während in den üblichen Medien Anders Tegnell, sofern er denn überhaupt vorkommt, als der kalte, sture Außenseiter dargestellt wird, lernt ihn, wer will, bei Richard Milne als einen Mann mit Tiefgang kennen. Ich jedenfalls werde mich immer wieder dafür interessieren, wie das Quasi-Duell zwischen dem Profi, der allein entscheidet, und den Laien – Politikern – ausgeht, die nur jene Profis zu Wort kommen lassen, die in ihre politischen Interessen passen.

Für weitere Beiträge setze ich die Behauptung in die Landschaft, die meiner Beobachtung entspringt: Bei den Politikern steht die ängstliche Konkurrenz im Vordergrund, sich in der Corona-Politik anderen Politikern gegenüber bloß keine Blöße zu geben – und daher im Zweifel stets für die härteren Restriktionen zu sein. Ob Politiker bei Corona (und anderen ernsten Fragen) die Bürger überhaupt noch im Blick haben, muss ich leider in aller Regel nicht nur bezweifeln, sondern verneinen.

Fußnote: Bei Tichys Einblick gibt es zu allen Themen unterschiedliche Meinungen und Autoren, das zeichnet TE für mich aus. Bei Corona ist das besonders der Fall. Weniger was das Virus selbst und seine Gefahren anlangt, denn darüber können auch die Experten aller Güteklassen vor dem Ablauf von einigen Jahren noch nicht viel wissen. Sondern darüber, was Politik über das Beste für die Qualität und Quantität des Gesundheitssystems hinaus tun darf, soll und muss – und was nicht. Was sie bisher fast überall – nicht nur in Deutschland – tat und tut, darf sie meiner Meinung nach ganz überwiegend nicht. Freiheit steht nicht unter Virus-Vorbehalt. Rücksicht auf andere nehmen Bürger in Selbstverantwortung – erzwingen lässt sich das nicht.

Anzeige
Die mobile Version verlassen