Tichys Einblick
Warum wer was (nicht) wählt

40 Prozent Nichtwähler: Eine Antwort auf den Parteien-Staat

Eine gesellschaftliche Debatte über Freiheit und Recht in der Bundesrepublik tut not – jenseits der Parteien und über sie hinaus.

Über die Nichtwähler in Niedersachsen schreibt Mario Thurnes, die Wahlbeteiligung in Niedersachsen sei das eigentliche Thema:

Es ist der Schlüssel, den der braucht, der das Ergebnis verstehen will: 6.064.092 Menschen waren laut Landeswahlleiter zur Wahl aufgerufen. 2.455.509 haben demnach keine gültige Stimme abgegeben. Rechnet man die als eigenen Block, die gar keine oder keine gültige Stimme abgegeben haben, kommt man auf 40,5 Prozent. Es wäre die mit Abstand stärkste Kraft im Landtag.

Die SPD, die den Ministerpräsidenten Stephan Weil stellt und stellen wird, kommt nach der Rechnung auf 20,0 Prozent. Die Grünen auf 8,7 Prozent, die CDU auf 16,8 Prozent und die AfD auf 6,5 Prozent. Bezieht man die Nichtwähler in die Rechnung mit ein, gäbe es im niedersächsischen Landtag keine Mehrheit ohne AfD oder Nichtwähler beziehungsweise Falschwähler. Immerhin haben sich knapp 50.000 Menschen die Mühe gemacht, ein Wahllokal aufzusuchen, um eine ungültige Stimme abzugeben.

Wie viele bewusst eine ungültige Stimme abgaben und wie viele den Stimmzettel ohne Absicht ungültig machten, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, in wie vielen Wahllokalen wie viele Stimmen bewusst oder unbewusst verfälscht oder falsch zugeordnet wurden. Diese Anmerkung gilt natürlich für alle Wahlen – und nicht erst seit kurzer, sondern schon seit langer Zeit – bei den Briefwahlstimmen ganz besonders. An den Trends hat das bei diesen und den meisten Wahlen nichts geändert. Eine Ausnahme ist die Bundestagswahl 2005: Die Frage, warum da plötzlich so auffallend viele Briefwähler für die CDU gezählt wurden, wird wohl immer ungeklärt bleiben.

Aber hier geht es mir nicht um mögliche Wahlfälschungen, sondern die immer wieder vernachlässigte Frage, warum wer was wählt. Die gängigen Analysen erwecken auch dieses Mal den Eindruck, dass die Wahlberechtigten das wegen der Inhalte von Politik, Programmen und der Rolle von Spitzenpolitikern täten. Ich behaupte, das sind die unwichtigsten Gründe für das Kreuz auf dem Stimmzettel. Ich behaupte das, weil ich das Stimmverhalten von Wahlberechtigten seit Jahrzehnten aufmerksam verfolge und über 30 Jahre auch das Verhältnis von Umfragen, Berichterstattung und Wahlentscheidungen.

Mein Fazit: Mit ihrer Stimmabgabe drücken die Bürger aus, zu wem sie in der Gesellschaft gezählt werden wollen.

Mich wundert immer wieder, auch nach so langer Zeit der Politik-Beobachtung, wie viele glauben, dass Wähler nach dem Bilderbuch der Politiklehre entscheiden. Dass sie die Programme der Parteien lesen, die Reden von Politikern studieren, sich des Wahlometers oder ähnlicher Hilfen bedienen und dann Stimmzettel entsprechend ankreuzen – also alles in allem sachlich rational entscheiden.

Die Wahrheit ist, dass sich die Mehrheit der Wähler recht früh in ihrem Leben für eine Partei entscheidet, die sie dann recht unbeirrt bis ans Lebensende wählen. Wie kommen sie zur ersten Wahl? Der häufigste Fall ist der durch das Elternhaus: Entweder schließen sie sich dem dominanteren Elternteil an, oder schließen umgekehrt genau das in Opposition zum Elternhaus aus. So oder so, beim dann einmal Gewählten bleiben sie. Eher wählen sie einmal nicht als was anderes.

Die Minderheit der Wahlberechtigten, welche ihre Wahlentscheidung ein- oder mehrmal im Leben ändern, ist seit meiner Beobachtung ab den 1960ern gestiegen, aber interessanter Weise in diesem Jahrhundert nicht mehr. Ein gutes Drittel dürfte es seitdem geblieben sein. Wobei es mit den Nichtwählern ebenfalls ein Drittel gibt, das mittlerweile in der Zusammensetzung und im Verhalten Stammwählern von Parteien vergleichbar ist – oder besser von Kernwählern.

2017 schrieb ich hier auf TE: „Die Parteienstrategen fingen an, die Stammwähler in Kernwähler und Stammwähler zu unterscheiden. Stammwähler geben ihre Stimme nie einer anderen Partei, gehen aber nicht immer zur Wahl. Kernwähler sind Stammwähler, die immer ihre Stimme für ihre Partei abgeben. Die letzten öffentlich zugänglichen Zahlen dazu gab es bei der Kampa 1998. Damals waren SPD wie CDU bei je 20 Prozent Kernwählern angekommen. Inzwischen dürften das eher 15 sein.“

Geändert hat sich gegenüber damals, dass die Zahl der Nichtwähler von 30 auf 40 Prozent angestiegen ist und zum großen Teil inzwischen etwas ganz anderes ausdrückt als einst. Unter den Nichtwählern hat der überwiegende Teil dem Parteienstaat gekündigt, sich in Nischen der Gesellschaft zurück gezogen, in denen diese Bürger so leben können wie früher, unbehelligt von den immer übegriffigeren Vorschriften des woken Zeitgeistes, wie wer zu leben, denken und reden hat.

Tomas Spahn schreibt in seiner Nachbetrachtung der Niedersachsen-Wahl, Merz, sollte „aufhören mit dem AfD-Wählerbashing, denn deren aktuelle Klientel wählt diese Partei zum weit überwiegenden Teil nicht aus Liebe, sondern aus Verzweiflung.”

Dass Bürger „zum weit überwiegenden Teil nicht aus Liebe, sondern aus Verzweiflung” wählen, ist keine Feststellung, die nur für die AfD-Wähler jetzt in Niedersachsen gilt. Vielmehr hat der Teil der Wähler, die aus solcher Verzweiflung ihre Stimme abgeben, seit langer Zeit bei immer mehr Stammwählern von CDU, FDP und SPD und Wechselwählern zwischen ihnen ebenfalls zugenommen. Die Grünen dürften nun in das Entwicklungsstadium eintreten, in dem sich viele ihrer Wähler auch darin nicht mehr von den älteren Parteien unterscheiden.

Ich traf die Tage einen bayrischen Fernlastfahrer aus kleinen traditionellen Verhältnissen, der dem Elternhaus und der Verwandtschaft entsprechend Jahrzehnte nie anders gewählt hatte als mit der Erststimme CSU und der Zweitstimme FDP. Beim nächsten Mal, sagte er mir, wähle ich AfD, obwohl ich die nicht mag, aber es reicht jetzt endgültig mit denen in München und Berlin.

Weiter oben schrieb ich als Fazit: Mit ihrer Stimmabgabe drücken die Bürger aus, zu wem sie in der Gesellschaft gezählt werden wollen.

Der Fernlastfahrer und ich kennen uns flüchtig. Was er mir sagte, hat er sicher davor vielen anderen in seinem Umfeld gesagt, die er besser und länger kennt als mich, und wird es weiter tun. Mit ihrer Stimmabgabe drücken die Bürger aus, zu wem sie in der Gesellschaft gezählt werden wollen – und zu wem nicht … mehr.

Etliche Leser zeigen in ihren Kommentaren überhaupt kein Verständnis für Nichtwähler, sondern stufen diese als systemstabilisierend ein nach dem Motto, wer nicht wählt, wählt die Herrschenden. Manche unterstellen den Nichtwählern schlicht, an Politik nicht interessiert zu sein. Natürlich sind die 40 Prozent Nichtwähler keine homogene Gruppe. Aber diejenigen unter ihnen, die dem „System” die innere Kündigung aussprechen, sind immer mehr geworden. Ich meine, es braucht eine Debatte, wie die Gesellschaft der Bundesrepublik zu Freiheit und Recht kommen kann – an den Parteien vorbei und über sie hinaus.

Wolfgang Herles plädierte hier neulich für eine grundlegende Reform der parlamentarischen Demokratie. Mit Ralf Dahrendorf debattierte ich einst über die Verbindung, wenn nicht Gleichsetzung von Nationalstaat, parlamentarischer Demokratie und Herrschaft des Rechts. Er war überzeugt, dass diese Drei nur als Paket funktionieren. Ich bin heute noch sicherer als damals, dass die Epoche der Nationalstaaten zusammen mit der parlamentarischen Demokratie zu Ende geht – von der Idee der Herrschaft des Rechts sind Elemente in einem Teil der US-Bundesstaaten übrig geblieben, der sogenannte Rechtsstaat in Deutschland und Österreich war nie einer. Das Wort Rechtsstaat drückt es aus, der Staat kann nicht Träger des Rechts sein, denn das Recht muss vor allem dem Bürger gegenüber dem Staat Recht verschaffen.

Die Epoche der Nationalstaaten geht aber nicht zu Ende, indem diese in einem Supranationalstaat namens EU aufgehen, sondern indem die großen Staaten von kleineren abgelöst werden. Was in der modernen Welt kleine Einheiten nicht alleine können, können sie durch Kooperation viel besser als durch Zentralismus.

Meine These lautet: Freiheit und Recht herrschen dezentral oder gar nicht.

Wie wäre es mit einer Debatte darüber statt der vergeblichen Suche nach der „richtigen” Partei?

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